Vereinbarkeit war gestern:
Tegernseer Eltern pendeln für den Krippen-Platz

In einer perfekten Welt könnten sich Eltern die Krippe für ihre Kinder aussuchen. Im Tal müssen Eltern bangen, ob sie überhaupt einen Platz bekommen.

Kinder: Großes Glück, großer Hunger, großes Chaos – ein Krippenplatz entlastet Eltern. Foto: Julia Jäckel

Mehrere Eltern haben uns angesprochen, ob wir das nicht mal recherchieren können. Darunter ein Ärzte-Ehepaar, eine Hotelbesitzerin und eine Krankenschwester, – manche sind hier geboren und in den Kindergarten gegangen; andere sind wegen der Liebe ins Tal gezogen. Eines haben sie gemeinsam: Sie haben eine Absage erhalten. Die letzten Wochen haben sie noch auf ein Nachrücken in der Warteliste gesetzt; doch bei den meisten Eltern hat sich die Hoffnung zerschlagen. Christiane M. aus Weißach ist Krankenschwester und empört: “Es ist nicht mehr wie vor 30 oder 40 Jahren. Man braucht mittlerweile zwei Gehälter, um hier Miete und Leben zu zahlen.” Sie versuchen jetzt ihr Leben um diese Betreuungslücke zu stricken. Christiane, die gerade noch in Elternzeit ist, überlegt, ob sie ihre Schichten aufs Wochenende legen kann. Dann können sie sich abwechseln. Auf die Großeltern oder die Schwiegereltern bauen, können sie nicht.

47 Kinder warten auf einen Platz

81 Anmeldungen sind gerade bei der evangelischen Kirche in Bearbeitung, davon können sie aktuell 34 Kinder aufnehmen, erklärt uns Pfarrer Dr. Weber auf Rückfrage. Zum Krippen-Kontingent gesellen sich noch private Träger, wie etwa die Einrichtung Kita Lou in Gmund. Hier sind die Plätze vor allem für Kinder von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Papierfabrik vorgesehen. Die Gemeinde Gmund betreibt die Kinderkrippe Zwergenburg. Die 29 Anmeldungen für das nächste Krippenjahr können hier nicht mehr untergebracht werden; deswegen will Gmund eine Großtagespflege im Pius-Kinderhaus organisieren.

“Ich kann das allein”, ein guter Krippenplatz stärkt Kinder für die Zukunft. Symbolbild: Julia Jäckel.

Dr. Weber, evangelischer Pfarrer in Tegernsee, der das Krippen-Thema im Tal losgetreten hat, ist verständnisvoll: “Ich verstehe die Not und die Verzweiflung der Eltern, wir tun, was wir können, das ganze Thema ist auf bundespolitischer Ebene vergeigt worden und die Kommunen müssen es ausbaden.” Außerdem bekomme er keine geeigneten Bewerberinnen, geschweige denn Bewerber für die freien Plätze und – die Anforderungen, die er an Personal stellt, will Weber nicht weiter runterschrauben.

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Kinder, Zukunft, Fachkräftemangel

Regina B. (Name geändert) ist 27, sie arbeitet in ihrem eigenen Hotel. Ein Familienbetrieb, den sie mit ihrem Mann und den Großeltern aufgezogen hat. Ein Vollzeitjob, wo ein kleiner Mensch mit 14 Monaten mal vorübergehend mitkrabbeln kann. Eine dauerhafte Lösung ist das nicht. Als sie eine Absage für einen der begehrten Krippenplätze erhalten, sehen sie sich weiter um und haben Glück – sie finden einen Platz bei einer Tagesmutter. Bis zu 400 Euro geht für diese Art der Betreuung raus. Für viele ist das weder leistbar noch eine Alternative. Schließlich sind hier auch die Plätze rar und das Vier-Augen-Prinzip nicht existent. Ein zweites Kind zu bekommen ist für Regina auch deswegen schwer vorstellbar, “erst fehlt die Hebamme, dann der Kitaplatz.” Georg H. und seine Frau arbeiten beide als Ärzte im Krankenhaus Agatharied. Auch sie tüfteln seit der Absage an einem Ausweg. Er will seine Arbeitszeit auf 80 Prozent kürzen, seine Frau geht in Teilzeit. Er betont, dass es nicht nur um Kinderbetreuung geht, sondern auch um die “medizinische Versorgung”.

Christiane ist der Liebe wegen ins Tal gekommen. Ihr Mann kommt aus Rottach-Egern. Sie erwische ich im Auto, als ich sie nach einem Update frage. Ab Herbst will sie wieder als Krankenschwester arbeiten. Ihr Notfallplan ist bereits eskaliert. Sie habe einen Krippenplatz in München in Aussicht, jetzt brauche sie nur noch eine Wohnung. Unter der Woche lebt sie dann mit ihrem Sohn in München, um ihrem Beruf nachgehen zu können. Am Wochenende geht es dann zu Papa an den Tegernsee.

Daten und Fakten

Im Tegernseer Tal gibt es an die 100 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren. Sie verteilen sich auf vier Einrichtungen der evangelischen Kirchen, eine Einrichtung der Gemeinde Gmund und private Träger. Weil Kinder in der Regel ein bis zwei Jahren in die Krippe gehen, ist diese Zahl nur eine Annäherung. Hinzukommt, dass sich manche Kinder einen Krippenplatz teilen. Auch gebaut und investiert wird in die Kinderbetreuung im Tal. In Bad Wiessee entsteht ein Kinderhaus mit um die 50 Krippenplätzen, das im Herbst bezugsfertig sein soll. Aber auch dafür braucht es ausgebildetes Personal. Auch Kreuth will eine Kinderkrippe, wartet aber noch auf das Go des Landratsamtes.

Kinder im Tal
In Bad Wiessee leben um die 100 Null bis Zweijährigen (Quelle: Adminstat). In den Gemeinden Tegernsee (76), Kreuth (82) und Rottach-Egern (118); Spitzenreiter ist Gmund mit 165 Kinder zwischen null und zwei Jahren. Das ist etwa die dreifache Menge der vorhandenen Plätze. Sicher, Nulljährige brauchen noch keinen Krippenplatz, einen Anspruch haben sie nach einem Jahr trotzdem. Und klar; nicht alle Kinder gehen in die Krippe, manche Eltern wollen ihr Kind erst mit drei in den Kindergarten schicken – die Zahlen sind damit nur ein grober Maßstab. Was in der Rechnung noch fehlt: Familien, die ins Tal ziehen – auch sie haben einen rechtlichen Anspruch auf einen Kitaplatz, wenn sie hier gemeldet sind.

Verteilung der Plätze
Die Plätze werden nach bestimmten Kriterien verteilt, so heißt es. Wer alleinerziehend ist, sich in Ausbildung befindet oder aus anderen sozialen Aspekten „mehr“ auf den Platz angewiesen ist, hat minimal bessere Chancen. Bayern teilt sich mit NRW, BW und Bremen die letzten Plätze in Sachen Kinderbetreuungsquote für unter Dreijährige. Sie unterscheiden sich nur um ein paar halbe Prozentpunkte. Bayern lag im Jahr 2022 bei 30,5. Dazu im Vergleich: Mecklenburg-Vorpommern ist mit 58,6 Prozent Spitzenreiter (Quelle: Statista).

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