Flüchtlinge und das kommunale Verteilungsdilemma:
Tegernsees Bürgermeister fordert Vorschriften-Abbau

Alle zwei Wochen kommen um die 50 Geflüchtete im Landkreis an. Doch das Landratsamt sucht schon seit Monaten nach Unterkünften. Bürgermeister, Johannes Hagn, fordert ein Umdenken:

Bürgermeister Johannes Hagn im Interview.

Seit Monaten suchen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Landratsamts Miesbach Wohnraum für die mehr werdenden Flüchtlinge. Über eine Lokalzeitung wird nun von Miesbach aus verbreitet, dass die Gemeinden doch bitte mehr Menschen unterbringen sollen. Die ukrainischen Flüchtlinge seien dabei nicht zum Kontingent zuzurechnen. Das erzürnt nicht nur den dortigen Bürgermeister Kühn, der sich prompt beim Landrat beschwert.

In Tegernsee ist seit Monaten die Turnhalle in der Ortsmitte mit Geflüchteten belegt. Das wird, so die düstere Prognose des Bürgermeisters, Johannes Hagn, über die nächsten Jahre so bleiben. Es rumort im Tal bei den Bürgern, Helferinnen sind erschöpft, die Politiker ratlos. Wohin mit den Menschen in einer Region, die bereits einen extrem knappen Wohnraum hat? Da entstehen fahrlässig Verteilungskämpfe um Wohnraum und Kita-Plätze. Fahrlässig, weil das Problem, so der Eindruck einiger Verantwortlicher, auf Bundesebene nicht gelöst werden will. Frust spürt man vor allem, wenn man mit den sonst sehr besonnenen Entscheidungsträgern spricht. Eben Johannes Hagn:

Wir hören, dass es angesichts der langen Turnhallenbelegung in der Bevölkerung rumort?

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Die Stimmung ist nicht gut, es gibt immer wieder Beschwerden über das Verhalten einzelner Personen. Wir haben zum Glück einen tollen Helferkreis und können so die meisten Beschwerden abstellen, bzw. zumindest Verhaltensregeln kommunizieren.

Wie beschreiben Sie die Situation vor Ort? (Turnhalle/Stadtrat/Bürgerinnen und Bürger/Schule)

Zur Situation vor Ort: 260 Asylbewerber sind zu viel, um hier als Helferkreis (gemeinsam mit der Kommune) sinnvoll agieren zu können. Der Helferkreis agiert trotzdem vorbildlich. Probleme sind dieselben wie schon 2014/2015. Wir versuchen hier auch in Kindergarten und Schule zu helfen, aber gerade bei der Kinderbetreuung können wir mangels Plätzen eigentlich keine Angebote machen.

Derzeit sind die Gemeinden im Tal unter großem Druck. Das Landratsamt besteht auf die Durchsetzung eines Verteilungsschlüssels, will den Gemeinden sogenannte Fehlbeleger zuweisen. Wie stehen Sie dazu?

Der Landrat hat Dr. Braunmiller (Bürgermeister von Miesbach, Anmerkung der Redaktion) und mich bereits im Juli 2023 zu einem Krisengespräch geladen. Er hat dann entschieden, dass mangels Meldungen der anderen Gemeinden ein Verteilungsschlüssel zur Anwendung kommt. Das Schreiben ist kürzlich rausgegangen. Eine Verteilung hat meines Wissens noch nicht stattgefunden. Einen gerechten Verteilungsschlüssel kann es nur dann geben, wenn jede Gemeinde nach dem Königsteiner Schlüssel zur Aufnahme verpflichtet wird. Derzeit müssen wenige die Hauptlast schultern. Leidtragende sind die Kinder und Jugendlichen, denen die Sporthalle fehlt.

Hintergrund

Flaschenhals Fehlbelegungen:
Menschen, die bereits ihr Asylverfahren durchlaufen haben, nennt das Behördendeutsch “Fehlbeleger.” Darunter sind anerkannte Flüchtlinge, die also einen Aufenthaltstitel haben, meistens handelt es sich dabei um eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Sie dürfen dann eigentlich arbeiten und sich frei bewegen. In einer idealen Welt sollen sie die Unterkunft verlassen, sich eine Wohnung und einen Job suchen. Doch da es kaum günstige Wohnungen gibt, weder in Bayern; noch im Tal und auch der Job erst gefunden werden will, ist das Szenario etwas unausgereift. Die Menschen durften also bleiben, dafür sorgte das Landratsamt Miesbach, bis zuletzt. Hintergrund: ein anerkannter Flüchtling, der aus der Unterkunft “rausgeworfen” wird, und keine Bleibe findet, dem droht die Obdachlosigkeit. Und auch hier ist die Gemeinde dran, sie muss für Obdachlose sorgen.

Asylbewerber versus Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine:
Ukrainerinnen und Ukrainer haben rechtlich eine andere Stellung als Asylbewerber. Sprich, es gibt hier kein Asylverfahren, sie erhalten sofort nach Registrierung einen zeitlich befristeten Aufenthaltstitel in Deutschland. Das ist für die Ukrainer praktisch und gut, weil sie versuchen können, sich hier ein Leben aufzubauen (für viele klar vorübergehend). Es gibt keine Verpflichtung, sie staatlich unterzubringen, weil sie sich selbst eine Wohnung suchen könnten. Angesicht der Wohnungsmarktlage im Tal jedoch utopisch. So sind auch sie auf Hilfe der Kommunen angewiesen.

Asylbewerber kommen aus verschiedenen Gründen nach Deutschland. Sie kommen aus Syrien, Afghanistan, Nigeria, dem Irak und vielen weiteren Ländern. Auch ihr Fluchtgründe sind vielfältig: Verfolgung, Folter, Vergewaltigung, Krieg und Bürgerkrieg, drohende Todesstrafe, Zerstörung der Existenzgrundlagen, Menschenrechtsverletzungen sind nur einige Gründe. Zuerst werden sie registriert in einem sog. ANKER-Zentrum (steht für Ankunfts-, Entscheidungs- und Rückkehr-Einrichtung) in Oberbayern und von da bayernweit in staatliche Gemeinschaftsunterkünfte verteilt, zum Beispiel nach Miesbach. Während der Dauer ihres Asylverfahrens gilt eine wohnsitzbeschränkende Auflage.

Was erwarten Sie vom Landrat und Ihren Nachbargemeinden?

Vom Landrat erwarte ich Initiative, die er gezeigt hat; und Durchsetzungsvermögen den Gemeinden gegenüber. Ob und wie sich die jeweiligen Gemeinden verhalten? Wird spannend! Persönlich setze ich auf die bereits vor Jahren praktizierte Solidarität. Fakt ist, dass bei uns niemand auf Wohnraum sitzt. Wir werden Containerlösungen brauchen, aber das dauert in Deutschland einfach zu lange (Baugenehmigungen, etc.).

Sie haben bereits leidvolle Erfahrungen mit Vorgaben gemacht, was die Unterbringung von Geflüchteten in gemeindlichen Wohnraum angeht?

In diesem Zusammenhang meine klare Kritik am viel zitierten Bürokratieabbau. Wir brauchen keinen Abbau an Bürokratie, sondern eine Vereinfachung von Verfahren und damit verbunden eine Rücknahme gesetzlicher Hürden bei Baurecht, Naturschutzrecht, etc. Bürokraten setzen lediglich Vorschriften um – also ein Vorschriften-Abbau wäre angesagt.

Hatten wir das nicht einmal schon?

Déjà-vu – die Diskussion haben wir schon 2015 geführt. Insofern hat Deutschland nicht nur nichts dazu gelernt, sondern einfach nur den Kopf in den Sand gesteckt. Ich erinnere mich gerne an die Diskussion, ob die 10.000 Euro für das unbelegte Bastenhaus nötig seien. Bereits damals habe ich in dem Zusammenhang immer wieder betont, dass wir Infrastruktur vorhalten müssen. Wie sich heute zeigt, hat Deutschland das nicht in ausreichendem Maße getan.

Was halten Sie vom Obergrenzen-Vorschlag Ihres CSU-Vorsitzenden Söder?

Eine Obergrenze ergibt Sinn, wenn ich weiß, von wem und wohin die Menschen verteilt werden sollen. Wir haben hier keine entsprechende Infrastruktur. Vor allem angesichts der ungleichen Verteilung von Migranten in Europa wird es eine Obergrenze alleine nicht bringen, wir brauchen schnellstmöglich eine gerechte Verteilung auf alle Mitgliedsstaaten. Die EU scheint es derzeit ja noch nicht einmal zu schaffen, ihre finanziellen Zusagen an Tunesien einzuhalten.

Sie haben deutlich gemacht, dass sie in Ihrer Kommune an der Obergrenze angelangt sind. Wenn nun tatsächlich eine Infrastruktur geschaffen wird, die es Kommunen erlaubt, mehr Menschen halbwegs menschenwürdig aufzunehmen, wäre das doch wieder der Grund, mehr Flüchtlinge zu holen. Kurz: Bessere Infrastruktur zieht mehr Flüchtlinge nach?

Meiner Meinung sind die Haupt-Pullfaktoren zum einen die zu laxe Haltung beim Grenzschutz in Deutschland und zum anderen der leichte Zugang zu einem hervorragenden Sozialsystem. Unsere Aufnahmebereitschaft hat sich sehr weit herumgesprochen.

Ist das nur ein Zufall? Oder warum taucht dieses Thema jetzt kurz vor den Landtagswahlen auf? Der Druck ist doch schon länger da?

Die Interpretation überlasse ich hier jedem selbst. Aber wir haben 2024 Europawahl und 2025 Bundestagswahl. Die Lösung liegt ja auch in Europa, siehe Lampedusa, und vor allem in Berlin, siehe Grenzschutz und Asylgesetz. Ich bin schon sehr gespannt, wie sich die Situation bis dahin entwickelt und welche Maßnahmen zur Entlastung unserer Bevölkerung nicht nur versprochen, sondern auch umgesetzt werden.

So wie Sie es beschreiben, könnte man sagen: Der Fisch stinkt vom Kopf: Die Bundesregierungen, die aktuelle, wie auch die Vorgänger-Regierung, haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Wäre es nicht angebracht gewesen, als Kommune, Landkreis nicht früher und heftiger Alarm zu schlagen?

Sie haben recht. Man hätte auf allen Ebenen vorsorgen und Infrastruktur vorhalten müssen. Allerdings erinnere ich auch an die sehr kritische Haltung in unserer Bevölkerung in Sachen Bastenhaus, wo angesichts des Leerstands die Verschwendung von Steuergeldern angeprangert wurde. Persönlich würde ich mir wünschen, dass wir künftig mehr bereit sind, für eine entsprechende Vorsorge Geld auszugeben und die Kommunen hierfür auch entsprechende Mittel erhalten könnten.

Vielen herzlichen Dank für das Gespräch!

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