Von Pokrowsk in das Tegernseer Tal. Im Gespräch mit der TS erzählt eine geflüchtete Familie, wie man Weihnachten in der Ukraine feiert – und warum sie gleich zweimal feiern.
Gerade endet der Deutschunterricht von Thomas Rika in der Bürgerstube von Bad Wiessee. Hier, nahe dem Westufer des Tegernsees, hat die Gemeinde für 160 ukrainischen Flüchtlinge einen Ort der Begegnung geschaffen. Nach der dreistündigen Unterrichtseinheit haben wir die Gelegenheit, eine der in Wiessee aufgenommenen Familien kennenzulernen.
Nadiia, ihren Mann Davyd und ihre Schwiegermutter Valentyna. Alle drei sitzen vor einem Teller mit selbst gebackenem ukrainischen Weihnachtsgebäck. Es handelt sich um die Reste der Nikolausfeier am 18. Dezember. Neben mir hat sich netterweise Deutschlehrer Thomas Rika platziert. Er wird einspringen, falls es mal mit der Verständigung hakt.
Insgesamt seid ihr sieben Familienmitglieder. Wer fehlt denn hier noch? Das sind doch nicht alle Ahadzhanovs.
Nadiia (lacht): Unsere drei Söhne. Die sind heute Vormittag natürlich in der Schule. Unser Jüngster, er ist neun und besucht die Grundschule in Rottach. Die beiden Großen gehen aufs Gymnasium Tegernsee.
Valentyna: Mein Mann kann leider nicht bei uns sein. Er hatte einen Schlaganfall im Oktober. Zuerst war er im Krankenhaus Agatharied. Jetzt wird er in München in einer Klinik behandelt. Weihnachten wird er wohl nicht mit uns feiern können.
Vor dem Kriegsausbruch habt ihr alle in Pokrowsk, einer Industrie- und Bergbaustadt nahe Donezk im Osten der Ukraine gelebt. Wie habt ihr den 24. Februar 2022 dort erlebt?
Davyd: Pokrowsk liegt ganz im Osten der Ukraine. Nur 60 Kilometer Donezk und dem Donbass. Wir leben seit acht Jahren mit der Angst – mit Bomben, Schüssen und Gewalt in der direkten Nachbarschaft.
Info der Redaktion: Der “Donbass Konflikt”
2013 kamen hunderttausende Menschen in Kiew zu den Maidan-Protesten zusammen und forderten einen Anschluss an die EU. Die Polizei schritt gewaltsam gegen die Demonstranten ein. Es entstand eine Massenbewegung, bei Protesten im Februar 2014 wurden mehr als 100 Demonstrierende getötet. In der Folge annektierte Russland die zur Ost-Ukraine gehörende Halbinsel Krim im Schwarzen Meer. Russland hat damit völkerrechtliche Verträge gebrochen, in denen die Achtung von Grenzen und die territoriale Integrität festgeschrieben ist. Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine kommt seither nicht zur Ruhe. In der Nordost-Ukraine kämpfen ukrainische Soldaten seit fast acht Jahren gegen die von Russland ausgerüsteten “Separatisten”. Um die Städte Donezk und Luhansk herum wurden 2014 zwei international nicht anerkannte “Republiken” ausgerufen. Am 21. Februar 2022, wenige Tage vor seinem Großangriff, hat Russland diese beiden “Republiken” anerkannt. (WDR 2022 – Krieg in der Ukraine: Die Hintergründe kurz erklärt). Weitere Informationen gibt es bei der Bundeszentrale für politische Bildung.
Nadiia: Nach dem Angriff im Februar 2022 sind die Zustände auch in Pokrowsk sehr viel schlimmer geworden. Ich bin im März mit den drei Jungs nach Deutschland geflohen. Davyd und die Schwiegereltern folgten uns im Mai an den Tegernsee.
Und wo wohnt ihr mit eurer Familie aktuell?
Nadiia: Wir haben drei Zimmer mit einer kleinen Kochecke im Abwinkler Hof in Bad Wiessee. Wir fühlen uns dort sehr wohl, mit den anderen ukrainischen Flüchtlingen, aber auch den freundlichen Menschen in der Nachbarschaft und im Dorf. Es findet sich immer jemand zum Reden. Die Jungs können mit den anderen Kindern spielen.
Dort feiert ihr in diesem Jahr auch Weihnachten?
Nadiia: Ja. Am 24. Dezember, jedoch auch am 6. Januar.
Wie? Zweimal?
Davyd: In der Ukraine gehören die meisten Menschen der russisch-orthodoxen Kirche an. Deren Festtage richten sich nach dem julianischen Kalender. Somit ist Nikolaus am 18. Dezember, der Heiligabend am 6. Januar und Neujahr ist offiziell erst am 13. Aber wir halten das flexibel (grinst).
Nadiia: Wir werden also den Baum für den 24. Dezember schmücken und in die Kirche gehen mit den Kindern. Dann bleibt der Baum halt stehen bis zum 6. – unserem traditionellen Heiligabend.
In der Ukraine ist das Essen ein großes Thema in der Weihnachtszeit, habe ich gehört?
Nadiia: Allerdings. Vor dem Heiligen Abend haben wir traditionell eine 40-tägige Fastenzeit. Wir verzichten auf Fleisch, Eier, Käse, Butter oder andere Milchprodukte, auch wenn das heute nicht mehr wirklich streng durchgezogen wird. Also nicht ganz so streng wie vor Ostern. Das Fasten soll den Geist und den Körper vor Weihnachten reinigen. Für den Heiligen Abend am 06. Januar werden 12 Fastenessen gekocht.
Gleich zwölf Gerichte? Bei uns gibt es am 24. eher einfache Gerichte, die wenig Arbeit machen, wie beispielsweise Wiener mit Kartoffelsalat.
Nadiia: Nein – bei uns sind es genau Zwölf. Wobei nicht ganz klar ist, ob die Anzahl auf die 12 Apostel oder die Monate in einem Kalenderjahr zurückgehen. Das Hauptgericht, das in keiner ukrainischen Familie am Heiligen Abend fehlen darf, ist Kutia. Ein Brei aus gekochtem Weizen mit Mohn, Honig, Walnüssen und Rosinen.
Und dann geht es in die Kirche?
Davyd: Nein, erst am Morgen des 7. Januar.
Nadiia: Am Heiligabend wird das ganze Haus mit Didukh – eine Garbe aus Weizenhalmen geschmückt. Das erinnert uns an unsere Familie, die Verstorbenen …
Valentyna: … für die haben wir immer ein Gedeck auf dem Tisch, um sie zu ehren.
Nadiia: Die Weizengarben sollen uns an die Familie erinnern und sind auch Symbol für Reichtum und Wohlbefinden. Nach dem Essen geht man normalerweise mit zu den Verwandten und Paten. Das wird in diesem Jahr schwer. Aber im Abwinkler Hof werden wir auch alle zusammen kochen und Geschichten von daheim erzählen. Und mit den Verwandten und Freunden telefonieren.
Wenn sie denn Strom haben und Internet. Gegenwärtig ist das sehr schwierig. Es fehlt an vielem. Für unsere Familie und Freunde wird das ein schwieriges Fest in der Ukraine Davyd Ahadzhanovs
Und was ist mit Weihnachtsliedern?
Nadiia: Die Lieder sind wichtig für Weihnachten (lacht). Wir haben ebenfalls die Sternsinger. Jungen und Mädchen, die von Haus zu Haus gehen in der Weihnachtsnacht und Lieder singen oder Gedichte aufsagen. Je mehr vorbeikommen, umso mehr Glück im Jahr. Dafür gibt es Münzen und Süßigkeiten.
An eurem ersten Weihnachtsfeiertag, dem 07. Januar, geht ihr traditionell in die Kirche. Auch hier am Tegernsee?
Nadiia: Wohl nicht. Es gibt hier keine orthodoxe Kirche. Nur in München glaube ich. Nach der Weihnachtsmesse kommen wieder alle zusammen und dann wird richtig geschlemmt. Die Fastenzeit ist ja vorbei.
Und was wünscht ihr euch für Weihnachten?
Nadiia: Natürlich, dass endlich der Krieg endet.
Wollt ihr, wenn es so weit ist, wieder nach Hause nach Pokrowsk?
Nadiia: Ich denke nicht. Daher ist auch unser zweiter großer Wunsch zum Fest, hier eine neue Heimat zu finden für unsere Familie. Eine Wohnung, vielleicht einen Job für meinen Mann, der Eisenbahntechniker ist. Zurzeit arbeiten wir beide in der Küche des Alpenparks. Dafür sind wir sehr dankbar. Und unsere Kinder sollen die Schule hier abschließen.
Und Sie, Valentyna? Wir haben gehört, dass Sie schon unter Heimweh leiden.
Valentyna: Ich wünsche mir, dass mein Mann wieder gesund wird. Mir fehlt meine Heimat sehr, aber ich möchte zusammen mit meiner Familie hier am Tegernsee oder irgendwo anders in Deutschland leben.
Hauptsache endlich in Frieden. Valentyna Ahadzhanovs
Die TS bedankt sich bei Familie Ahadzhanov für das nette Gespräch und wünscht den Sieben eine frohe, doppelte Weihnacht. Ebenso wünschen wir das all den Flüchtlingen, die hier am See leben – ob sie nun Weihnachten oder nur die stade Zeit feiern.
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