Der Krieg, das Tal und die Lieder
Und da singen sie dann plötzlich gemeinsam

Der Krieg, der auch im Tal seine Opfer forderte. Wir sehen die Kriegsdenkmäler, lesen von Helden und hören die Gedenkreden. Aber es gab da diese andere Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg …

Ehemaliges Schlachtfeld an der Westfront Foto: Martin Calsow

Erst singt einer “Stille Nacht.” Dann stimmen andere ein. Es ist Weihnachten 1914. Und hier im Schlamm von Ypern, einer belgischen Stadt, nicht weit vom Ärmelkanal entfernt, liegen auch bayerische Soldaten eines Regiments. Sie haben den Versprechungen ihres Königs, dem Wittelsbacher Ludwig III. geglaubt, bald wieder daheim zu sein. Auch Männer aus dem Tegernseer Tal hausen in den feuchtkalten Schützengräben. Sie hatten noch im Spätsommer das Vieh von den Almen geholt, ihre Werkstätten und Geschäfte in Rottach-Egern oder Kreuth verlassen, ehe sie nach München, Augsburg oder Würzburg in die Kasernen verbracht worden waren. Dort hatte man sie in Windeseile an Waffen notdürftig ausgebildet und an die Westfront weitergereicht.

Ihr König hatte Lust auf mehr Territorium gehabt. Zu Beginn, im Sommer 1914, hatte Ludwig III. das an die Bayerische Pfalz angrenzende Reichsland Elsass gefordert, später hegte er sogar großbayerische Träume nach dem Rheinland und Belgien und sogar der niederländischen Rheinmündung. 

Und dann singen sie …

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Dafür lagen seine Untertanen im Dreck, wurden verletzt und von Geschossen getötet. Sahen jeden Tag Tod und Verderben. Aber dann, an diesem Weihnachtsfest 1914, singen sie. Erst sollen es die Sachsen gewesen sein, die damit beginnen. Junge Männer aus Pirna. Quellen sprechen davon, wie auch Soldaten des bayerischen Regiments bei Ypern einstimmen. Noch ein Jahr zuvor hatten einige von ihnen in den Stuben der Bauernhäuser am See gesessen. Sich eine Zukunft erträumt. Vielleicht waren einige schon verliebt, hatten geküsst. Auf andere warteten Kinder, irgendwo zwischen Gmund und Glashütte.  

Die Kanonen schweigen auf beiden Seiten. So ist der Gesang auch in den Schützengräben der Engländer, wenige Meter entfernt, zu hören. Deutsche Soldaten fordern sie auf mitzusingen. Englische Soldaten rufen: “Eher bringe ich mich um, als Deutsch zu singen.” Die Deutschen lachen, rufen: “Singst du auf Deutsch, erschießen wir dich.” Und dann singen sie gemeinsam “Stille Nacht, heilige Nacht”, jeder in seiner Sprache, seinem Dialekt aus der Heimat. Bayerisch, sächsisch, walisisch, schottisch. Kurz darauf kriechen Männer, Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere, aus den Gräben, begegnen sich, tauschen scheu Tabak, trinken Schnaps und Bier miteinander. Sie, die noch Tage zuvor sich aufs Blutigste bekämpft hatten, voller Hass und Wut aufeinander losgegangen waren, stehen beieinander, erst vorsichtig sich beäugend, dann lachend sogar ein Fußballspiel wagend. Junge Männer aus dem schottischen Hochland sehen sich Tegernseer Bauernjungen gegenüber. Und auch wenn sie nicht eine gemeinsame Sprache beherrschen, so ahnen sie, dass sie hier im Schlamm von Ypern mehr gemein miteinander haben, als mit jenen, die sie in das Feuer, in die Blutmühle der Westfront befehligt hatten. Dieses gemeinsame Weihnachtsfest zwischen Engländern und Deutschen inmitten der Hölle gibt Hoffnung. Auf den ersten Blick gewagt, naiv – aber möglich.

Nachtrag:

Für die Heeresleitungen auf beiden Seiten drohte das gegenseitige Töten früher beendet zu werden, als es den Offizieren in den Stäben lieb war. Nach zwei Tagen war dann der Weihnachtsfrieden vorbei. Man ging wieder aufeinander los. Vier Jahre lang. Am Ende starben 230.000 bayerische Soldaten. Ihr König floh am 7. November 1918 überstürzt aus der Münchner Residenz. Von 1914 bis 1918 kostete der Erste Weltkrieg 17 Millionen Menschen das Leben. Neben zehn Millionen Soldaten aus ganz Europa und Übersee starben auch sieben Millionen Zivilisten. Von den mehr als 13 Millionen deutschen Soldaten verloren zwei Millionen ihr Leben, Millionen andere erlitten teils schwerste Verletzungen und Traumata.  

Neun Jahre später wurde in Tegernsee ein Kriegerdenkmal eingeweiht. Gegenüber vom Gymnasium und der Brauerei steht es noch immer da. Bald hatten alle Gemeinden um den See solche Denkmäler mit den Namen jener, die sinnlos ihr junges Leben hergaben. 

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