Ergänzung vom 9. Mai / 9:35 Uhr
Ob grün oder weiß, der ominöse Bus ist wieder da. Erneut geht seit mehr als einer Woche auf Facebook ein sogenannter “Hoax” rum. Man könnte ihn auch üblen Scherz oder Kettenbrief nennen. Auf alle Fälle ist die Meldung falsch.
Es geht darum, dass der Fahrer eines weißen Kleinbusses Kinder an Haltestellen anspricht und diese zum Mitfahren auffordert, da angeblich der Schulbus defekt sei.
Diese Meldung kursiert mittlerweile bereits in verschiedenen Versionen. Sie unterscheiden sich zumeist bei den Ortsangaben. Im Landkreis Miesbach sind es eben auch die Schulen und Orte, die man kennt.
Leider bleiben solche Falschmeldungen nicht folgenlos. Eltern, Bekannte und Verwandte sind verunsichert, da auch Zeitungen über das Thema berichten.
Doch auch in diesem Fall kann man, wie schon beim letzten Mal im Oktober, Entwarnung geben. Die Polizei weiß nichts von einem “weißen Bus” und schon gar nichts von einer zwielichtigen Person, die sich an Kinder “ranmacht”.
Ursprünglicher Artikel vom 27. Oktober 2011:
Egal, wie man es nennt, ob übler Scherz, Masche, Kettenbrief, Hoax, “urban legend” – die Geschichten funktionieren immer gleich. Ein Empörungsthema wird gesucht, eine Bedrohung, irgendetwas, das viele Menschen berührt.
So auch die Warnung, man habe vor der Schule einen grünen Bus gesehen, ein Mann spreche Kinder an, die Mama habe gesagt, dass der Junge mitfahren müsse, weil der reguläre Bus nicht kommen würde, etwas passiert sei und so weiter. Obligatorisch ist die Aufforderung, die Nachricht weiterzuverbreiten, “um andere zu warnen”.
So wie die aktuelle Meldung über facebook, die wir vor etwa einer Stunde erhalten haben:
Achtung für Leute aus MB und Umgebung:
Heute war die Polizei an den Miesbacher Schulen und hat noch mal darauf hingewiesen, dass man den Kindern sagen solle, dass sie auf keinen Fall in einen grünen Bus steigen sollen! Denn es wurde jetzt mehrfach ein Bus gesehen, der Mann habe sich als Paketfahrer ausgegeben und den Kindern gesagt, die anderen Busse seien defekt und sie sollen doch bei ihm einsteigen.
Bitte posten, auch wenn man keine Kinder hat! Ist ein wichtiger Hinweis!!!
Und flugs verbreitet sich das Gerücht – in Zeiten des Internets rasant. Der “grüne Bus” (wahlweise auch weiß) ist mittlerweile in ganz Deutschland vor Schulen gesehen worden. Es gibt Dutzende Varianten der Geschichte, deren Botschaft im Kern lautet: “Achtung, pädophiler Kinderschänder hat es auf dein Kind abgesehen.”
Schutzreflexe
Der Schutzreflex ist verständlich. Auch ich habe die Meldung gelesen und war sofort aufmerksam. Der Sohn ist mit 17 Jahren “zu groß”, aber da ist ja noch die Tochter, die beschützt werden muss.
Als ich die Nachricht zu Ende gelesen hatte, habe ich nach Hinweisen gesucht, bei der Wiesseer Polizei nachgefragt. Weniger, weil ich beunruhigt war, sondern aus einem journalistischen Reflex heraus.
Kann das sein? Ist da was dran? Das Ergebnis: keine Erkenntnisse. Keine Hinweise. Damit war die Sache für mich erledigt.
Da der Bus oder vielmehr die angebliche Geschichte seine Bahnen zieht, braucht es offensichtlich doch eine “offizielle” Entwarnung. Es gibt ihn nicht, den “grünen Bus”.
Den “grünen Bus” gibt es nicht – wohl aber die Angst
Tatsächlich gibt es große Ängste – das eigene Kind in den Fängen pädophiler Verbrecher … Eine Horrorvorstellung für viele Eltern. Tatsache ist aber, dass sexuelle Gewaltverbrechen (mit Todesfolge) seit Jahren rückläufig sind.
Das hat vor allem mit einer erhöhten Aufmerksamkeit zu tun, mit Prävention, mit guter Polizeiarbeit. Der allerschlimmste “Horrorfall”, der sexuelle Missbrauch mit Todesfolge, ist die absolute Ausnahme. 2009 hat die “Polizeiliche Kriminalstatistik” (PKS) in Deutschland zwei solcher Fälle “erfasst”, 2010 keinen einzigen.
So erschütternd jedes einzelne Schicksal ist: statistisch gesehen ist die Bedrohung, gemessen an einer Bevölkerungszahl von rund 80 Millionen Menschen, nicht messbar. In krassem Gegensatz dazu steht die Angst davor.
Missbrauch in der Statistik
Schaut man auf die “kalten” statistischen Daten, fällt vor allem der “sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlenen” auf. Diese Täter fahren keinen “grünen Bus”, sondern sind meist im alltäglichen “Umfeld” der Kinder zu finden.
Es sind Väter, Brüder, Onkel, Opas, Nachbarn, Mitarbeiter von “Jugendorganisationen”, Vereinsfunktionäre, Kirchen, Ärzte, Sozialarbeiter – eben alle, die “alltäglich” mit Kindern zu tun haben. Die Täter sind meist männlich und im direkten Kontakt mit Kindern. Nicht der “böse Unbekannte”, sondern der “Bekannte” ist die reale, böse Bedrohung.
Das Perfide an dieser Bedrohung – es sind Personen, denen man eigentlich vertraut. Von denen “man das nicht denkt”.
Hier gehen die Missbrauchszahlen in die Tausende. Statistisch gesehen muss man diesen Zahlen misstrauen. Ganz im Gegensatz zu den Zahlen über entführte Kinder, die zu Tode kommen. Die sind sehr exakt.
Die sexuellen Missbrauchsfälle, die durch “bekannte” Personen begangen werden, werden wegen Schamgefühls, Sorgen um die “öffentliche” Stellung häufig nicht angezeigt. Die Dunkelziffer ist nicht zu bemessen, man kann aber davon ausgehen, dass sie sehr hoch ist.
“Jungs” haben es “schwerer”
Nicht nur Frauen wissen das sehr genau. Welche Frau erzählt schon gerne, dass der Opa sie “gestreichelt” oder sie ihre “Unschuld” durch den “Onkel” verloren hat? Kaum eine. Trotzdem gibt es immer mehr Frauen und Mütter, die sich dem Missbrauch stellen und ihn nicht einfach “abtun”.
Für “Jungs” ist das bis heute noch viel schwerer. Als “Mann” einen Missbrauch einzugestehen, ist auch durch “Rollenbilder” sehr viel schwieriger. Mal ganz ehrlich: In wie vielen Köpfen geistert noch der Blödsinn herum, dass “Frauen genommen werden” und “Männer nehmen”? Und was ist dann mit “Männern”, die “(heran)genommen” wurden? Sind das Männer oder nur einfach “Schwuchteln”?
Solche blödsinnigen Rollenbilder machen es pädophilen Tätern einfach. Und die Scham der Opfer, der Familien und der Gesellschaft schützt die Täter zusätzlich. Das ist die Perversion der Perversion.
Als eine der größten “Missbrauchsorganisationen” geriet die katholische Kirche in die Kritik – die Welle der Anzeigen und “Offenbarungen” reißt nicht ab. Und eine “ehrenwerte” Haltung der katholischen Kirche, Missbrauchsfälle konsequent und ohne Kompromisse zu verfolgen, ist nicht zu erkennen. Ganz im Gegenteil – die Vertuschung hat Methode, selbst unter Einsatz juristischer Mittel.
Auch Stefan Aigner, Lokaljournalist aus Regensburg, ist so eine Art “Missbrauchsopfer”. Eineinhalb Jahre musste sich der freie Journalist gegen die Diözese Regensburg wehren, die ihn verklagt hatte, weil er in einem Bericht Zahlungen an die Familie eines Missbrauchsopfers als “Schweigegeld” benannt hatte.
Aktuell hat das Oberlandesgericht Hamburg diese Einschätzung bestätigt und Stefan Aigner diese Wortwahl gestattet. Die Prozesskosten von weit über 10.000 Euro waren geeignet, den Journalisten wirtschaftlich zu ruinieren. Vergleichsversuche im Vorfeld hat die Kirche nicht angenommen. Dem Missbrauch folgte der Wille, einen kritischen Journalisten mundtot zu machen – koste es, was es wolle.
Das bekannteste Beispiel für “sexuellen Missbrauch Schutzbefohlener” in unserer Region ist das Kloster Ettal – eine katholische Eliteschule. Nach einem Bericht der Welt herrschte dort ein “Terrorregime”.
“Schulleiter, Kirchenvertreter, Ministerien – alle reden von ‘Einzelfällen’ des sexuellen Missbrauchs an Schulen. Inzwischen sind es ziemlich viele Einzelfälle. Die Schulen haben einen blinden Fleck, die Behörden offenbar einen toten Winkel: Wo ist die staatliche Schulaufsicht, wenn man sie braucht?”, fragt Spiegel online in einem Artikel.
Die reale Bedrohung ist nicht der “grüne Bus”, sondern das Umfeld.
Für Eltern und ihre Kinder muss klar sein, dass nicht der “grüne Bus” die echte Bedrohung darstellt – die tatsächliche Bedrohung liegt tatsächlich vor Ort im vermeintlich vertrauenswürdigen Umfeld.
Der beste Schutz der Täter ist die Scham, die viele empfinden. Der beste Schutz vor den Tätern und auch nach einer Tat ist die Anzeige und notfalls auch die Öffentlichkeit – damit anderen nicht dasselbe “Schicksal” widerfährt.
Dafür braucht es sicherlich Mut. Mehr, als eine dubiose Meldung weiterzuverbreiten, die nur das Angstthema schürt.
Wer wirklich etwas gegen Missbrauch tun will, darf einen solchen nicht verschweigen. Der Missbrauch darf kein Tabu-Thema sein. Und es gibt mittlerweile durch Polizei und Behörden umfangreiche Hilfen.
Auch privat sollte das Thema kein Tabu mehr sein. Hier gilt es, den Opfern Mut zu machen und sie frei von jeder Schuld zu halten.
Wer Opfer eines Missbrauchs geworden ist, hat trotzdem jedes Recht, mit Würde behandelt zu werden. Die Täter sind die Schuldigen. Wenn die Gesellschaft das begreift, wird es weniger Opfer und damit auch weniger Täter geben.
Und irgendwann verschwindet vielleicht auch die übertragene Angst vor “grünen Bussen”.
Der Gastautor Hardy Prothmann ist Mitglied von istlokal.de, einem bundesweiten Netzwerk lokaljournalistischer “Zeitungen”.
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