Noch bis Sonntagabend wird es ruhig um den Tegernsee. Kein Durchgangsverkehr lärmt durch den Ort. Grund: Die Bahnbaustelle in St. Quirin. Jeder stöhnt. Aber wer hat Schuld?
Kommt es zum Thema Baustelle, wird jeder schnell zum Experten: “China setzt so einen Bahnübergang wie in St. Quirin in einer Nacht instand.” “Warum am Feiertag?” Das sind nur zwei unterkomplexe Klagen vieler Betroffener, die in den nächsten vier Tagen mit der Unannehmlichkeit einer Umfahrung am Westufer leben müssen. Da können Verantwortliche erklären und die besten Lösungen suchen. Wird der Deutsche in seinem individuellen Mobilitätsdrang gestört, reagiert er grantig. Aber was hat es mit den Bahn-Baustellen auf sich? Warum kommt uns das gerade so gehäuft daher?
“Wir haben die Strecke in den letzten zehn Jahren regelrecht abgefahren”, sagt der Geschäftsführer der Tegernseer Bahn Betriebsgesellschaft (TBG), Michael Bourjau. Der Tegernsee Bahn gehört die 12,4 Kilometer lange Strecke zwischen Schaftlach und Tegernsee, die Bahnsteige und Haltepunkte in Moosrain und Finsterwald sowie die Bahnsteige in den Bahnhöfen Gmund und Tegernsee.
Somit sind wir auch verantwortlich für die Bahnübergänge auf dieser Strecke. Die Bahnhofsgebäude in Tegernsee bzw. Gmund sind Eigentum der Stadt Tegernsee bzw. der Gemeinde Gmund. Und der Unterhalt dieser Infrastruktur kostet. “Wir haben in den letzten zwei Jahren, auch unter dem Eindruck des Bahnunfalls bei Garmisch-Partenkirchen, massiv unsere Gleise, Übergänge und Sicherungssysteme überprüft”, erklärt Bourjau. Der Wirtschaftsberater übernahm den Job 2021 und wird vom 1. Bürgermeister Tegernsee, Johannes Hagn, als betriebswirtschaftliche Geheimwaffe eingesetzt.
Aktuell ist Bourjau auch beratend im Projekt “Kommunales Hallenbad” aktiv.
Bourjau kennt sich mit Sanierungen aus, hat sie als Berater bei vielen Firmen durchgeführt. „Über Jahre wurde vieles vernachlässigt“, sagt Bourjau lakonisch. Die TBG investierte im letzten Jahr fast anderthalb Millionen Euro. Eine Summe, die sich voraussichtlich in diesem Jahr verdoppelt und auch noch einmal 2025 deutlich erhöht. Lohnt sich das? Und wenn ja, für wen?
Denn die TBG erhält ihre Einnahmen von der BRB, also der Bahn, die die Strecke nutzt, über sogenannte Trassen-Engelte. Bourjau lässt durchblicken, dass das Unternehmen, an dem die Stadt Tegernsee beteiligt ist, zwar “kerngesund sei, aber nicht ein Gewinnbringer sei wie beispielsweise das Tegernseer E-Werk.
45 Prozent Beteiligung
Die TBG hat drei Eigentümer: Mit jeweils 45 Prozent sind Gmund und Tegernsee an der Gesellschaft beteiligt, mit zehn Prozent der Landkreis. Überspitzt gesagt, investieren die Stadt Tegernsee und Gmund in einen Öffentlichen Nahverkehr auf einer kurzen, aber essenziellen Strecke für das Gesamt-Tal.
Wenn also weniger Individualverkehr von allen Kommunen gewünscht wird, Bürgermeister und Tourismus-Funktionäre auf die Bedeutung des ÖPNV hinweisen, sollte jedem klar sein, dass Gmund und Tegernsee hier für viele andere eine Infrastruktur unterhält. Das muss man sich leisten können.
Denn politisch gewinnt man im Bereich Instandhaltung selten etwas. Ein neuer Fahrsteifen auf der A8 für 735 Millionen Euro? Sofort stehen Bundespolitiker bereit und schneiden Bänder durch. Aber die Instandsetzung einer Bahnstrecke? Das Auswechseln einer gebrochenen Bodenplatte? Die Renovierung der Seebrücke in Gmund – all das fällt Bürgerinnen und Bürgern nur auf, wenn der Verkehr zum Erliegen kommt. Und genau das ist die Krux. Wir alle setzen Infrastruktur als gegeben voraus. Steht da, hält doch ewig. Aber das ist natürlich Unsinn.
Ein Blick aus dem Tal hilft (eigentlich immer): Die Deutsche Bahn gibt der eigenen Infrastruktur für das vergangene Jahr lediglich die Note 3,03, wie aus dem neuen Netzzustandsbericht der Infrastrukturtochter DB InfraGO hervorgeht. Besonders schlecht seien Bahnübergänge und Stellwerke. Diese seien inzwischen so überaltert, dass lediglich ein Neubau infrage kommt. Die Bahn gibt diesen Anlagen eine 4er-Wertung – oder in anderen Worten: »schlecht«. Der Erneuerungsbedarf beläuft sich dem Bericht zufolge inzwischen auf Kosten von mehr als 92 Milliarden Euro.
Was der Bahn im Großen bevorsteht, arbeitet man am Tegernsee im Kleinen ab: Im nächsten Frühjahr ist der Bahnübergang in Kaltenbrunn an der Reihe, es folgt die Instandsetzung der Seebrücke in Gmund. Nach und nach soll die Strecke zwischen Schaftlach und Tegernsee auf ein sicheres und damit zukunftsfähiges Niveau gehoben werden. Dazu gehört auch die Elektrifizierung der Strecke, die nun angegangen wird.
Das Verkehrsministerium hat den Start dafür für Anfang der 2030er-Jahre anvisiert. Projektleitung wird die DB Netz sein. Und diese Elektrifizierung wird auch sichtbar sein: Alle 80 Meter werden dann leichtfüßige Masten entlang der Strecke stehen, wohl nicht zur Freude der Anwohner.
Nur: Wenn nicht rechtzeitig investiert wird, verbleiben immer mehr Gäste und Einwohnerinnen des Tegernseer Tals im Auto und nutzen nicht die Bahn. Das will keiner. Ausbesserung der Infrastruktur bedeutet in erster Linie Sicherheit für Fahrgäste: Bourjau verwies auf den Unfall bei Garmisch-Partenkirchen. Der Bahnunfall von Burgrain von vor zwei Jahren forderte fünf Menschenleben.
Ein Zwischenbericht der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung vom 01. Juni 2023 nannte einen Mangel am Oberbau als primäre Unfallursache: Die verlegten Spannbetonschwellen sollen Beschädigungen aufgewiesen haben. Bourjaus TBG mag an den nächsten vier Tagen für Stress bei Autofahrern mit der Baustelle sorgen. Aber niemand will Bilder von einer entgleisten Bahn am oder im Tegernsee sehen. Dafür steht man dann eben häufiger im Stau …
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