„Soll sie doch putzen gehen!“ Entrüstet wendet sich eine ältere Dame an ihre Sitznachbarin, um über die Frau herzuziehen, die gerade durch die Schiebetür verschwindet. Man kennt sich, sitzt hier in Gmund einmal wöchentlich im gleichen Raum und wartet darauf, aufgerufen zu werden. Sie alle wollen durch diese Schiebetür. Um das zu bekommen, was sich dahinter verbirgt.
Sie geht die Treppe nach oben. Schweigend setzt sie sich neben die Anderen. Ungefähr fünfzehn Frauen zieren jetzt die schmalen Holzbänke. Die meisten um die 70. Unter ihnen ein junger Mann, der wie ein Asylsuchender aussieht. Niemand sagt etwas. Die meisten Blicke sind zu Boden gerichtet. Dann wartet sie. Wie jeden Samstagnachmittag.
Es war kein Fahrstuhl-Knopf, den die 46-jährige Mutter drückte, um nach unten zu kommen. Stattdessen riss das Aufzugseil, relativ weit oben. Der soziale Abstieg war ein rasanter Fall ohne Netz und doppelten Boden. Noch bis vor sechs Jahren führte die dreifache Mutter ein „gutes“ Leben. Ein Haus in Holzkirchen, zwei Söhne, eine Tochter, zwei Pferde. In ihrer zwanzigjährigen Ehe baut sie gemeinsam mit ihrem Mann eine Firma auf. Irgendwann das Aus. Ihr Mann will die Trennung, braucht, wie er sagt, „eine Auszeit“. Durch Zufall erfährt sie später, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits eine andere hat. Die neue Frau bekommt die Firma überschrieben.
Resignation, weil die Situation ausweglos erscheint
Sie fängt an zu trinken. Mit einem Küchen-Aushilfsjob bei Hexal versucht sie, das ihr verbliebene Haus zu halten. Als ihre Stelle wegrationalisiert wird, greift sie zu Härterem. Wodka, Schnaps und Wein sind nun ihre täglichen Begleiter. Ihr Mann verkauft das Haus inklusive des Grundstücks. Ihr bleiben 12.000 Euro. Sie zieht mit ihrer Tochter an den Tegernsee. Inzwischen aufgrund ihrer Krankheit frühverentet, bleiben ihr – wie sie sagt – 150 Euro im Monat zum Leben.
Ab einem gewissen Pegel weißt du nicht mehr, ob’s Geld langt
Aus Angst, man könne ihr den Strom abstellen, fängt sie an, Lebensmittel in den Geschäften zu stehlen, die sie täglich aufsucht. Einmal verschafft sie sich über den Seiteneingang eines Wiesseer Hotels Zugang und nimmt Pralinen, Mayonnaise und Ketchup mit. Warum? Sie weiß es nicht mehr. In sechs Diebstahlfällen steht sie vor Gericht.
Irgendwann der Komplettabsturz: mit fünf Promille liefert ihre Tochter sie in die Klinik ein. Die Diebstähle im Delirium erkennt der Richter nicht an. Neben Geldstrafen lautet eine seiner Bewährungsauflagen: Alkohol-Entzug. Eine Tagesklinik in Agatharied hilft ihr dabei, vom Alkohol loszukommen. Nach eigenen Angaben ist sie jetzt seit zwei Jahren trocken.
Die Taschen prall gefüllt
Die Schiebetür öffnet sich. „Marlies Bauer?“ (Name v.d. Redaktion geändert). Der zarte Körper der blonden Frau erhebt sich. Nicht ruckartig, oder freudig. Eher wie der eines vom täglichen Druck getroffenen und verunsicherten Menschen. Noch im Gehen hört man eine der älteren Damen tuscheln:
So nötig hat die`s doch nicht. Die kenn ich. Da sollte man mal dahinter schauen. Die kann doch putzen gehen.
„Wie geht es Ihnen?“, fragt die freundliche Dame von der Gmunder Diakonie hinter der Theke. Der kleine Raum ist gefüllt mit Lebensmitteln. Brot, Suppen, Müsli, Käse, Wurst, Brokkoli, Lauch, Äpfel, Erdbeeren, Pudding und Süßigkeiten liegen wohlgeordnet nebeneinander. Sechs ehrenamtliche Helfer stehen an verschiedenen Stationen verteilt und geben alles kostenlos an Bedürftige aus.
Der Einkaufsladen für Arme ist ein Paradies fürs Auge. „Brauchen Sie vielleicht ein paar Backerbsen?“ Sie schüttelt den Kopf. „Süßigkeiten?“ Mit beiden Händen greift die Dame von der Diakonie in einen Korb voller Knoppers und schüttet sie in die mitgebrachte Tüte. Eier, Laugenstangen, Salat, Paprika, Joghurt und Erdbeeren folgen.
Beim Herausgehen schließt sich die Schiebetür hinter ihr. Die Gespräche im Warteraum verstummen. Die Mundwinkel der älteren Damen faltig zusammengekniffen. Die Blicke bewusst zu Boden gesenkt. Doch sie lächelt. Im oberen Eck fehlt ihr ein Zahn. Sie geht die Treppe zur Straße herunter. Ihre vollgefüllten Plastiktüten stellt sie neben sich ab. Dann streckt sie ihren rechten Arm aus und hält den Daumen nach oben.
Dieser Beitrag wurde im Juli 2016 zum ersten Mal veröffentlicht und stammt aus der Reihe “Im Schatten des Tals”.
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