Rückblick. Am 24. Januar dieses Jahres, exakt um 12:05 Uhr, klaut eine 48-jährige Wiesseerin eine kleine Flasche Wodka Gorbatschow zum Preis von 1,99 Euro im Edeka-Laden in der Münchner Straße in Bad Wiessee (wir berichteten). Die Angeklagte wird von der stellvertretenden Filialleiterin auf frischer Tat ertappt und zur Rede gestellt. Man kennt sich. Aus der ehemaligen Tengelmann-Filiale in Rottach-Egern. Auch dort hatte die Angeklagte irgendwann einmal eine Flasche Schnaps mitgehen lassen.
Die 48-Jährige bestreitet den unbezahlten „Einkauf“ nicht, kann sich allerdings überhaupt nicht mehr erinnern, geschweige denn ausweisen. Sie habe an diesem Morgen Tabletten eingenommen, sagt sie. Gegen ihre Entzugserscheinungen. Und Antidepressiva. Und Herzpillen. Geschluckt habe sie die Tabletten mit Bier, runtergespült mit Wein. Oder Schnaps. Sie erinnert sich nicht mehr ganz genau. Eines weiß sie: Es war ein morgendliches Ritual.
Immer wieder Rückfälle
Bevor die Polizei eintrifft, nimmt sie noch schnell einen Schluck aus der geklauten Wodka-Flasche für 1,99 Euro. Dabei sollte das mit dem Alkohol doch eigentlich aufhören. Doch die Therapie, die sie erst im Oktober letzten Jahres begonnen hatte, war gleich wieder hinfällig, als die Trennung von den Hunden dazwischen kam. Die Hundesteuer war einfach zu hoch, nachdem Waschmaschine und Trockner den Geist aufgegeben hatten.
Zwei Jahre lag zu diesem Zeitpunkt die Depression zurück, die man bei ihr diagnostiziert hatte. Psychisch mitgenommen war sie durch die Magersucht ihrer Tochter. Der Arzt spricht von einer „kombinierten Persönlichkeitsstörung“. Jetzt sitzt sie im Büro der stellvertretenden Filialleiterin. 100 Euro Strafe soll sie zahlen. Sie lässt es am Tag darauf von einer Bekannten vorbeibringen. Hausverbot bekommt sie trotzdem. Und eine Anzeige – wegen Diebstahl.
Der Alkohol lässt sie das Geld vergessen
Gestern im Gerichtssaal. Ihr Kreuther Anwalt Martin Walch liest auf die Frage von Richter Walter Leitner, ob seine Mandantin denn in der Lage gewesen wäre, die 1,99 Euro zu bezahlen, den Kassenbon vor: Ein Salat für 1,69 Euro, zwei 0,5 Liter-Flaschen Doppelbock für 2,18 Euro, eine Tragetasche für 26 Cent. 4,13 Euro habe sie für alles zahlen müssen. Zehn Euro habe sie bar gegeben, wie dem Kassenbon zu entnehmen sei, so Walch. Seine Mandantin hätte das Geld also gehabt.
Auch der als Zeuge geladene Polizeibeamte hatte sich damals über den Diebstahl gewundert, wie er gestern aussagt. Denn im Geldbeutel der Angeklagten hatte man 43,80 Euro gefunden. Ein Blick von Richter Leitner ins Bundeszentralregister der Angeklagten zeigt, dass der Diebstahl in Bad Wiessee nicht das einzige Delikt ist, das die Angeklagte begangen hat.
Schuldfähig oder „vermindert schuldfähig“?
Drei weitere Diebstähle und zwei Betrugsfälle sind dort eingetragen. In zwei Fällen wurden die Straftaten mit einer Freiheitsstrafe auf Bewährung geahndet. Der letzte Diebstahl passierte ausgerechnet am letzten Tag der Bewährungsfrist. „Hätten Sie’s nur a bissl ausgehalten. Dann müssten wir uns nicht so viele Gedanken um Sie machen“, hatte Leitner der Angeklagten bereits bei der letzten Verhandlung mit auf den Weg gegeben.
Damals hatte Rechtsanwalt Walch einen Beweisantrag gestellt. Ein medizinischer Sachverständiger sollte herausfinden, ob die Angeklagte aufgrund ihres Zustands zur Tatzeit „schuldfähig“ oder „vermindert schuldfähig“ war. Gestern bestätigt eine Fachärztin für Rechtsmedizin der Angeklagten eine „erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit aufgrund von Alkohol und Medikamenten“.
Die wiederholten Rückfälle würden für eine „schwerwiegende Suchtproblematik“ sprechen, so die Ärztin. Dennoch sei davon auszugehen, dass noch „ein Rest Steuerungsfähigkeit“ vorhanden gewesen sei. Immerhin habe die Angeklagte noch einkaufen gehen und zahlen können.
Zu viele Vorstrafen
Der Staatsanwalt sieht zwar eine „verminderte Schuldfähigkeit“ aufgrund der Alkoholsucht der Angeklagten, bezieht sich in seinem Schlussplädoyer aber vor allem auf die fünf Einträge im Bundeszentralregister. Die Angeklagte sei einschlägig vorbestraft, dreimal wegen Diebstahl. Hier zeige sich immer wieder dasselbe Muster, und das müsse „zu Lasten der Angeklagten gehen“, sagt er. Sechs Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung hält er deshalb für angemessen.
Verteidiger Walch plädiert ebenfalls für eine Freiheitsstrafe, möchte diese aber auf Bewährung aussetzen. „Man muss berücksichtigen, dass das Unrechtsbewusstsein der Angeklagten nicht so hoch ist wie bei einem normalen Kaufhausdieb“. Außerdem habe es sich um einen Bagatell-Betrag gehandelt. Deshalb appelliere er ans Gericht, der Angeklagten nur fünf Monate zu geben, die zur Bewährung ausgesetzt werden.
Vier Monate auf Bewährung
Das ist der Moment, in dem die Angeklagte zusammenbricht. Weinend sagt sie: „Das ist schon hart, das zu hören“. Ihre Tränen wischt sie mit einem Taschentuch weg. Als Richter Leitner kurz unterbrechen will, winkt Walch ab. Die Angeklagte fasst sich wieder und sagt:
Ich sehe ein, dass Handlungsbedarf besteht. Es tut mir leid.
Dann spricht Leitner sein Urteil: „Vier Monate auf Bewährung. Die Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens“ und muss sich erneut einer Therapie unterziehen. Die Wiesseerin habe unter „massivem Suchtdruck“ gehandelt, begründet Leitner seine Entscheidung. Weil sie aufgrund ihrer Alkoholkrankheit mit Rückfällen leben müsse, habe sie eine Bewährung „verdient“. Die Tat habe sie zudem in betrunkenem Zustand begangen, nicht im nüchternen.
„Hätten Sie im trockenem Zustand was geklaut, wär` Schluss mit lustig“. Ansonsten gebe es nichts an der Angeklagten „auszusetzen“. Sie sei immerhin mehrere Jahre „trocken“ gewesen – und das sei schonmal „nicht schlecht“. Ihr einziges Problem sei eben nur der Alkohol. Die Angeklagte lässt er wissen: „Das Gericht honoriert, dass Sie nicht aufgeben“.
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