Wir sind keine Laborratten

Ist es das größte Experiment im Tal? Sind wir Versuchstiere in einer großen Anordnung? Wie reagieren die Menschen, wenn wir ihnen alles nehmen? Ein Kommentar unseres Autors Martin Calsow.

Was fehlt uns eigentlich gerade wirklich im Tegernseer Tal?

Kein Fest, keine Feier, kein Feuerwerk. Events, wo mittelalte, dürre Männer um den See hetzen? Keine Chance. Münchner in Glitzer-Dirndl? Nö. Betrunkene Einheimische auf Waldfesten feiern? Eher nicht. Das Tal nimmt eine Auszeit. Aber wie geht es weiter?

Ein hier im Tal geborener Freund sagte kürzlich, Ostern habe das Tal auf ihn gewirkt wie vor 40 Jahren. Kaum Touristen, an manchen Morgenstunden ist es so still, dass man denkt, man sei allein. Viele, auch ich, haben in den letzten Jahren über den Zustrom von Menschen und Verkehr aus anderen Regionen geklagt, der Event-Wahn trieb uns um. Straßen wurden belastet, was wiederum Ausbesserungen hervorrief, was wiederum Staus bedeutete, was wiederum den Ruf nach Tunneln und eben mehr Straßen beförderte.

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Viele kämpfen gerade

Der Sound der Stadt, knallig und zuweilen dämlich, erreichte das Tal, weil es Gastronomen wie Kohler so wollten (Stichwort: Bussi Baby). Der steht jetzt vorerst mit leeren Händen da und sucht sein Heil in verzweifelt-ranwerfenden Plakataktionen. Seine Münchner Mittelmanagement-Gäste bleiben aus. Dürfen nicht rein. Kein Bussi Bussi beim Japaner. Kaum #tegernsee-Selfies mit Knutschmund oder Muckipose vor BMW Cabriolette auf Instagram. Seefeste, wichtiger Termin im Fun-Kalender der Party-People fallen aus. Das Geschiebe vor dem Bräu in Tegernsee und auf der Seestraße in Rottach-Egern wird nicht stattfinden. Zum ersten Mal seit Jahren können wir, die wir das ganze Jahr hier leben, durchatmen. Das ist die eine Seite der Medaille.

Vor wenigen Tagen postete eine junge Dame in einer der Hilfsgruppen einen dringenden Hilfeappell. Sie sei Hotelfachfrau, jetzt ohne Arbeit, mache alles: Gartenarbeit, Putzen – egal. Man liest es, und es ist ein Schlag. Wir vergessen bei aller Angst vor Ansteckung, wie viele am unteren Ende der Arbeitskette gerade um ihre Existenz kämpfen. Denn die Käfers, Kohlers, Althoffs, Huberts, Totzauers und Greithers geben vielen von uns Arbeit und Aufträge, zahlen Steuern, von denen wir erheblich profitieren. Sie halten den Laden am Laufen, wie man so flapsig sagt und leben jetzt in schierer Angst vor der Zukunft.

Und wenn wir schon einmal dabei sind: Die ungeliebten Zweitwohnungsbesitzer kaufen beim Sollacher, bei der Hildegard und den vielen Modegeschäften ein, essen in der Pizzeria, geben Trinkgeld, lassen ihre Hazietten von heimischen Handwerkern aufpolieren, die Gärten machen, gehen hier zum Friseur. Manch Frührentner ist froh um die zusätzlichen Mittel durch Hausmeisterarbeiten. Das ist die andere Seite der Medaille.

Was fehlt uns?

Das Pendel ist im Tal für wenige Monate in die andere Richtung geschlagen. Jetzt sollten wir uns genau anschauen, was uns fehlt. Und abwägen, was wir wirklich brauchen. Eine Idee: Vielleicht sollten wir über Obergrenzen bei Zuzug und Feiern nachdenken. Das Problem der Zweitwohnis in der Krise: Die Vernünftigen blieben daheim, die Schweinchen-Schlau-Fraktion aus Hamburg, Ebersberg und Stuttgart kennt keine Skrupel und parkt vor der Zweit-Haziette. Kommt mittel an und dient der unguten Generalisierung. Mitleid gibt’s da nur vom Merkur. Hier gibt es erheblichen Nachholbedarf bei einer gutverdienenden Gesellschaftsgruppe im Bereich der Solidarität und der sozialen Intelligenz.

Wenn man das ein oder andere Event in andere Gegenden unseres Landes empfiehlt (siehe: mittelalte, dürre Männer in engen Radlerhosen, die auch in der Rhön radeln dürfen), wird es uns nicht wirklich fehlen. Ereignis statt Event vielleicht? Das Pendel muss ja nicht wieder komplett auf der andere Seite landen. Aber es gibt eben ein wirtschaftliches Rückgrat in unserem Tal.

Wir sollten es pflegen und nicht verdammen. Leben und leben lassen, reicht als Bayern-Mantra nach Corona nicht mehr. An dieser Stelle werden die Kommunalpolitiker gefordert sein, mit einem gemeinsamen Konzept an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie haben uns bislang sehr gut geschützt, mit zum Teil sehr unbequemen Maßnahmen wie einen Brandbrief. Aber wie soll sich das Tal, unsere lokale Wirtschaft von der Krise erholen, wenn wir einfach nur dort weitermachen, wo wir vor der Krise aufgehört haben? Welche Wege wollen wir zukünftig gehen? Entlassen wir die Herren, ob frisch gewählt oder seit der Steinzeit im Amt, nicht aus dieser Verpflichtung. Nach Zeiten der Verordnungen von oben, muss die Zeit des Teilhabens, des Mitgestaltens kommen.

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