Wie berichtet hatte Richter Walter Leitner vom Amtsgericht Miesbach am 28. Juni die Sitzung unterbrechen müssen, weil die wichtigste Person fehlte: Die Angeklagte selbst. Zwar hatte sie dem Gericht vorab telefonisch mitgeteilt, dass sie erkrankt sei, aber bis zum Verhandlungstermin kein ärztliches Attest vorgelegt.
Nach Leitners erster Überlegung, die Beschuldigte zwangsweise vorführen zu lassen, entschied er sich an diesem Tag dafür, die Verhandlung zu unterbrechen, und einen neuen Termin festzusetzen. So saß die Angeklagte also heute Vormittag – neben ihrem Anwalt Martin Walch – verhandlungsbereit im Gerichtssaal.
Der Alkohol und die Erinnerungslücken
Schon um 6.30 Uhr in der Früh hatten Polizeibeamte der Polizeiinspektion Bad Wiessee bei der Beschuldigten an der Haustür geklingelt und sie festgenommen. Nach Absprache mit den Beamten war sie dann aber letztendlich doch freiwillig im Gericht erschienen. Die Staatsanwältin verlas die Anklage: Am 24. Januar dieses Jahres soll die Wiesseerin eine kleine Flasche Wodka im Wert von 1,99 Euro im Edeka-Laden in der Münchner Straße geklaut haben.
Die Angeklagte bestreitet den Vorwurf nicht, kann sich allerdings überhaupt nicht mehr an die Tat erinnern. Sie habe an diesem Tag Tabletten eingenommen, sagt sie. Gegen ihre Entzugserscheinungen. „Ich wollte doch weniger trinken. Das waren für mich Ersatzdrogen.“ Erst später habe sie von einer „anderen“ Ärztin erfahren, dass man die Tabletten nicht mit Alkohol nehmen darf. Die „fatalen Folgen“ habe sie ja am eigenen Leib zu spüren bekommen, räumt sie ein.
Tabletten und Alkohol – keine gute Kombi
Wie viel sie von den Tabletten an diesem Morgen eingenommen hatte, wüsste sie nicht mehr so genau. Eine gute halbe Packung sei es auf jeden Fall gewesen. Die Pillen habe sie schon in der Früh mit Schnaps und Wein geschluckt. Später sei Whiskey dazugekommen. Den habe sie in der Wohnung einer Bekannten getrunken, wo sie deren Blumen haben gießen müssen, weil sich diese im Urlaub befand. „Dann weiß ich nichts mehr“, erklärt die 48-Jährige und zupft an ihrem blassgelben Strickpullover, der ihren Teint eher fahl aussehen lässt, anstatt ihn stylisch zu untermauern.
Ihre Worte sind klar und gefasst, als sie dem Richter die Frage beantwortet, wie sie denn in die Wohnung der Freundin gekommen sei. „Ich nehme an, ich bin getrampt“, mutmaßt sie. Von ihrer Tochter habe sie später erfahren, dass sie den Schlüssel einfach in der Wohnungstür haben stecken lassen. Und auch die Tür habe „sperrangelweit offen“ gestanden. „Wirklich, ich weiß gar nichts mehr, null“, beteuert die Angeklagte und wiegt ihren Kopf hin und her. Leise teilt sie ihrem Anwalt mit, dass die Freundschaft seitdem “gegessen” sei.
Ohne Hunde ist das Leben nur halb so schön
Wieder auf die Diebstahl-Geschichte vom Richter angesprochen, sagt die 48-Jährige: „Ich gehe davon aus, dass ich es war“. Der Wodka habe mit Sicherheit auf ihrer „normalen Tageskonsumliste“ gestanden. Schließlich beginne sie den Tag „meistens mit Wein und Bier“ und steige dann auf härtere Sachen wie Wodka oder Kräuterschnaps um. „Der Rückfall zum Alkohol kam im Oktober vergangenen Jahres“, lässt sie den Richter wissen. Damals habe sie einen „Schicksalsschlag“, auch in finanzieller Hinsicht erlitten.
Weil die Hundesteuer zu hoch für sie war, habe sie ihre Hunde weggeben müssen. Dann seien auch noch die Heizung, die Waschmaschine und der Trockner kaputt gegangen. Eine neue Therapie habe sie schon beantragt, versichert sie dem Richter und fügt hinzu: „Ich schäme mich für den Diebstahl“. 100 Euro habe sie dem Edeka-Laden an Verwaltungsgebühren gezahlt. Weil sie selbst Hausverbot erhielt, habe sie das Geld ein paar Tage später durch einen Boten hinbringen lassen, berichtet die Angeklagte.
„Stark alkoholisiert“ und „verwirrt“
Die als Zeugin geladene stellvertretende Marktleiterin des Edeka-Geschäftes, die die Tat selbst beobachtet und bei der Polizei angezeigt hatte, bestätigt, dass die Angeklagte an diesem Tag „alkoholisiert“ und „etwas mehr als angetrunken“ war. Dennoch habe sich die 48-Jährige unter Kontrolle gehabt.
Die Polizei hingegen beschreibt die Beschuldigte in ihrem Bericht als „stark alkoholisiert“ und „verwirrt“. Sie sei noch nicht einmal in der Lage gewesen, das Telefon zu bedienen, als es darum ging, eine Aufsichtsperson zu rufen, heißt es darin weiter. Von der Polizei sei sie deshalb – nach Rücksprache mit dem Landratsamt – ins Krankenhaus Agatharied eingeliefert worden.
Medizinisches Gutachten soll Klarheit bringen
Ein Blick von Richter Leitner ins Bundeszentralregister der Angeklagten zeigt, dass der Diebstahl in Bad Wiessee nicht der einzige gewesen ist. Drei weitere Diebstähle und zwei Betrugsfälle sind dort eingetragen. In zwei Fällen wurden die Delikte mit einer Freiheitsstrafe auf Bewährung geahndet. Und weil der letzte Diebstahl ausgerechnet am letzten Tag der Bewährungsfrist passierte, könne man das Urteil nicht ungeachtet der anderen fällen, so Leitner.
Hätten Sie’s nur a bissl ausgehalten. Dann müssten wir uns nicht so viele Gedanken um Sie machen.
Kurze Stille im Gerichtssaal. Richter, Staatsanwältin und Verteidiger überlegen. Dann stellt Rechtsanwalt Walch einen Beweisantrag. Ein medizinischer Sachverständiger soll herausfinden, ob die Angeklagte aufgrund ihres Zustands zur Tatzeit „schuldfähig“ oder „vermindert schuldfähig“ war. Die anderen sind einverstanden. „Jetzt müssen wir abwarten, was rauskommt“, sagt Richter Leitner zur Angeklagten und fügt hinzu: „Es schadet aber nicht, wenn Sie sich bis dahin gut führen“.
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