Ein Kommentar zu den Anschuldigungen gegen den Sternekoch Jürgens
Spitzenleistung ohne Übergriffe

Sterneküche und Schweinsbraten-Wirtshauskost verhält sich wie Formel 1 zu Seifenkistenrennen. Das ist die gängige Vorstellung. Aber was braucht die kulinarische Champions League?

Spitzenkoch Christian Jürgens im Fokus der Anschuldigungen / Quelle: Christian Jürgens Management

Wo es um Perfektion und extreme Innovation geht, da wird auch geschrien, geworfen und gedroht. Das jedenfalls behaupten Menschen, die in diesen Branchen tätig sind und waren. Küche? Das ist ein rauer Ort, wo mal mit Pfannen, mal mit Beleidigungen und Drohungen geworfen wird. Nur – ist das noch zeitgemäß?

Junge Menschen wollen anders arbeiten

Gern verdrehen Menschen meiner Generation und älter jetzt die Augen. Ach herrjeh, die heutigen Jungen vertragen nicht einmal ein hartes Wort. Schneeflocken allesamt. Kann sein, aber dummerweise haben diese jungen Menschen einen wichtigen Faktor auf ihrer Seite: Sie werden dringend in Gastronomie und Hotellerie gesucht. Nach der Pandemie waren viele im Service einfach weg, hatten sich andere Berufe gesucht. Warum? Da ist zum einen die unregelmäßige Arbeitszeit. Da ist die zuweilen mäßige Bezahlung. Und – da ist die fehlende Wertschätzung.

Köche oder Kellner, die noch in den 80ern ausgebildet wurden, mussten sich gegen neue Konkurrenz durchsetzen. Wer muckte, war raus, denn es wartete schon der oder die Nächste. Folge: Chefs konnten sich mehr Wahnsinn, mehr Schreien, mehr Diva leisten. Damit ist Schluss: Immer mehr der geburtenstarken Boomer gehen in den nächsten Jahren in den Ruhestand. Ein Arbeitgeber, der die miesen Arbeitsplatzbedingungen nicht unterbindet, wird kaum Personal finden. Das gilt vor allem für den Spitzenbereich der Sterneküche. Wer glaubt denn, dass Hotelmanager nicht ahnen, was in Küchen und Weinkellern an passiert? Das spricht sich herum. Der Fall Jürgens wirft ein Schlaglicht auf eine Branche, die von exklusivem Genuss, von Perfektion und Luxus gut lebt, die mit Spitzenleistung maximale Aufmerksamkeit generiert: Michelin-Sterne – das ist das Ziel.

Anzeige
Ein Schild, vom dem Köche auf der ganzen Welt träumen.

Wer als Koch, jenseits von Schnitzel mit Fritten und Ente mit Knödel, gar als künstlerischer Handwerker wahrgenommen werden will, muss eine Ochsentour hinlegen. Perfektion und ständiges Lernen durchzieht den Alltag. Tag und Nacht zu arbeiten, wenn Kollegen schon beim Wein angekommen sind. Ein Burn-Out ist dann noch die harmloseste Folge: Beziehungen scheitern, die Gesundheit leidet. Freunde sind rar. Und ein Fehler zur falschen Zeit, etwa wenn der Tester vor Ort ist – und alles fängt von vorn an. Klar gibt es in Sterne-Küchen keine entspannte Atmosphäre wie in einem KiTa-Stuhlkreis. Sterne-Küche ist wie ein Schweizer Uhrwerk mit perfekt ineinandergreifenden Rädchen.

Wo bleibt die Unschuldsvermutung?

Thomas Kellermann, der Spitzenkoch mit zwei Sternen aus den Egerner Höfen, sagt mir im Podcast (kommt nächstes Wochenende bei uns auf der Tegernseer Stimme): “Ab 18 Uhr herrscht Stille in der Küche, kein unnötiges Reden. Nur Ja und Nein.” Ärztinnen kennen das aus OP-Sälen, SEK-Polizisten aus Einsätzen und Spitzensportler auf dem Platz. Nur: Überall haben sich auch diese Berufsfelder verändert. Götter in Weiß? Das ist schon lange vorbei. Sinnloses Quälen mit Medizinbällen? Das ging im letzten Jahrhundert. Ist das alles gut? Im Grundsatz sicher ja. Allein – es bleibt ein Haken bei der Sache. Ob BILD-Chefredakteur, Schauspieler oder Koch – sie alle erleben gerade die übermächtige Wucht einer Verdachtsberichterstattung, die nicht selten ohne Beweise bleibt, sich oft genug auf Aussagen der mutmaßlichen Betroffenen verlässt und manchmal auch nahezu inquisitorisch daherkommt. Das macht die Sache nicht nur juristisch heikel. Bezichtigungen, speziell, wenn sie im juristisch-moralischen Graubereich wabern, geben dem vermeintlichen Täter (oder Täterin) kaum eine Chance zum Widerspruch. Einmal in der Welt sind sie auf ewig ein Makel für das Individuum.

Ein Jahr in der Versenkung wird nicht reichen

Christian Jürgens hat, wie jeder Mensch in unserem Land, das Recht auf eine Unschuldsvermutung. Das gilt vor allem, wenn noch nicht einmal behördlich ermittelt wird. Öffentlichkeit kann Menschen zum Helden katapultieren. Sie kann ihn auch zerstören. Und wenn Christian Jürgens die Vorwürfe eingesteht, er das damit verbundene Leid versteht, gehört auch ihm, wie jedem anderen in unserer Gesellschaft, der Weg zurück in die Küche, in seine Arbeitswelt gestattet. Das ist nicht gönnerhaft gemeint. Das ist eine selbstverständliche Frage der Menschlichkeit. Klar ist aber auch: Stimmen nur einige der Vorwürfe, braucht Christian Jürgens mehr als ein Jahr in der Versenkung, um wieder Menschen zu führen. Und auch das Management, so es von den Vorkommnissen wusste, braucht eine transparente Neugestaltung eigener Kontrollformen. So geht Spitzen-Gastronomie im 21. Jahrhundert nicht mehr. Zu schade, dass die Michelin-Tester das Arbeitsklima der Sternetempel nicht prüfen können.   

SOCIAL MEDIA SEITEN

Anzeige
Aktuelles Kommentar Meinung

Diskutieren Sie mit uns
Melden Sie sich an und teilen Sie
Ihre Meinung.
Wählen Sie dazu unten den Button
„Kommentare anzeigen“ aus

banner