Eine andere Weihnachtsgeschichte von Martin Calsow:
Wir sehen Bilder von alpenländischen Krippen, in der Maria ein Dirndl und Josef eine Lederhose trägt. Aber nehmen wir uns doch mal die Oberland-Gottesfamilie vor: Die Maria und Jesus/Loisl? Nennen wir die jüdische Maria mit Nachnamen Zenzinger oder Kandlinger und das Jesuskind eben Alois. Dann hätten es beide bei uns im Tal vor 200 Jahren nicht hübsch gehabt, egal ob Jungfrau oder nicht.
Wiessee und Abwinkl, als Oberland-Bethlehem zum Beispiel, waren vor der Zeit des Tourismus reine Bauerndörfer. Das Land gab wenig her. Eine dünne Humusschicht, darunter lag Kies. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts musste das Kloster in Tegernsee den Bauern in Wiessee mit Getreidelieferungen aus München aushelfen. Diese Hilfe endete mit der Säkularisation. Fortan war Mangelernährung in Wiessee/Bethlehem nicht die Ausnahme, eher die Regel und nicht nur hier.
Kinder wurden in Waisenhäuser abgegeben
So starb zwischen 1809 und 1845 innerhalb des ersten Lebensjahres eines von drei Neugeborenen. In der Familie seiner Mutter, schreibt Oskar Maria Graf, „machte man … kein großes Aufheben. Jedes Jahr wurde eins geboren. Starb es, so war es schade, blieb es am Leben, war es gut.“ Den Männern war die Not einer schwangeren Frau egal. „Kuhverrecke, großer Schrecke, Weibersterben, kein Verderben“, sagte man noch 1875.
„Sie gebären gar wohl hinter Hecken, packen den neugeborenen Wurm auf, tragen ihn eine Stunde Wegs weit nach Hause und stehen nach drei Tagen wieder an ihrer gewohnten Arbeit“, schrieb ein Chronist dieser Zeit. War das Kind zudem nicht einem Vater zuzuordnen, gab man es in Waisen- und Findelhäuser. Diese Einrichtungen bezeichnete der badische Arzt Adolf Kußmaul als Mördergruben. Die Angabe Marias im Geburtsregister „Name des Vaters: Heiliger Geist“ hätte noch andere Konsequenzen gehabt. Kurz: Keine Komfortzeit für unsere Maria Kandlinger aus Wiessee.
Der Sepp und die Hirten/Knechte?
Erkrankte man, half meist nur der (Aber)Glaube. Eine ärztliche Versorgung war für die einfachen Bewohner im Oberland, den Tagelöhnern, den Kleinbauern, Knechten und Mägden nahezu unbezahlbar. Wer von der staden Zeit hört, sieht eine heimelige, warme Zirbelstube vor sich, wo die Magd an der Zither sitzt, der Bauer mit der Gitarre aufspielt und Kinder mit roten Wangen Weihnachtslieder singen. Ein Bild, das der Talrealität früherer Jahre nicht gerecht wird.
Das Vieh im Stall musste gemolken, Holz geschlagen, transportiert und bearbeitet werden. Ruhig wurde es selten auf den Höfen. Josef, hier also eher der Sepp, riskierte oben im Winter, wie die meisten arbeitsfähigen Männer des Tals, beim Holzschlagen, Triften und Abtransportieren mit Hörnerschlitten sein Leben. Das geringe Tageslicht während der Rauhnächte machte Arbeit noch einmal gefährlicher. Verletzte man sich oben am Berg, so schickte man auch schon einmal einen Knecht mit dem blutigen Hosenstoff hinunter zu einem „Segner“, der den Fetzen besprach. Man darf über die Wirksamkeit solcher Verzweiflungstaten durchaus zweifeln.
Weihrauch oder Impfstoff?
Lebensrettende Impfungen kamen erst zum Ende 19. Jahrhunderts in die Welt. Bis dahin raffte Diphterie, Typhus, Tuberkulose und Polio die Menschen überall und damit auch im Tal dahin. Wallfahrtsorte wie Marienstein schienen für viele die einzige Lösung zu sein, und die katholische Kirche lieferte gern Kerzen und geweihtes Wasser gegen allerlei Übel.
Erst mit der Reichsgründung 1871 und dem Einfluss Preußens auf die bayerische Gesundheitsversorgung ging die Säuglingssterblichkeit langsam zurück. Das deutsche Reich war im Wettstreit mit den Erzfeinden und versuchte durch Gesetze und Aufklärung das Leben der Mütter und Kinder zu schützen. Der bayerische Pädagoge Georg Kerschensteiner forderte, dass junge Mädchen bereits in der Schule Kenntnisse der Säuglings- und Kindererziehung erhalten sollen.
Erst spät kamen die Aufklärung und die staatlichen Hilfen in unser Tal. Wir nehmen unser sicheres Leben, frei von Gefahren und vielfach auch von frühem Leid, sehr selbstverständlich. Statt Geistergeschichten von früher zu lauschen, wäre eine glucksende Dankbarkeit über bestehende Verhältnisse angebrachter.
Quellen: “Chronik von Wiessee, Band 1”, “Leben und Sterben auf dem Land”, magis
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