Ein Plädoyer für alle Sitzenbleiber im Tal
Schule ist nicht alles im Leben

In zwei Wochen ist das Schuljahr durch. Sechs Wochen Sommerferien warten. Für einige endet das Jahr mit Schrecken: Sie müssen eine Klasse wiederholen.

An dieser Stelle kommen immer die Klugscheißer daher: “Hat noch keinem geschadet. Sind selber schuld die Schratzen, wenn sie nicht lernen wollten.” Sitzenbleiber haben immer den Ruf der Faultiere inmitten eines Kreises engagierter Schülerinnen und Schüler. Gern vergisst der in die Jahre gekommene Ex-Schüler: Neben Notenversagen gibt es andere Gründe, warum jemand in der Schule plötzlich zurückfällt.

Hier ein Potpourri der Gründe:

Die verfluchte Corona-Zeit, die sich unterschiedlich auf Kinder ausgewirkt hat. Ein naher Verwandter oder ein Freund stirbt, ein Umzug steht an, die großer Schwester, bislang zuständig für die Stabilität beim Lernen, zieht aus. Oder einfach: andere Dinge im Leben werden plötzlich wichtiger.

Aus eigener Erfahrung kann der Autor sagen: Sitzenbleiben ist der größte Scheiß. Eine Klassenstufe zu wiederholen, das kostet Zeit, bedeutet: Du musst in einen neuen Klassenverband wechseln. Du hast das Schandmal auf der Stirn, doch alles schon draufzuhaben, oder etwa nicht? Und du bist eben einfach nicht gut genug gewesen.

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Keine Angst – ich rede hier keinen Helikopter-Eltern-Unsinn. Bildung ist eben Lernen. Und klar: Ohne Bildung ist dein Leben sehr eng und schwierig. Lernen muss immer dein Ziel sein. Nur erinnere ich mich eben auch sehr wohl an diese Wochen der Angst am Schuljahresende, an die Panik vor den letzten Tests und Klausuren, die dann versemmelt, mit viel roter Tinte, wieder auf den Tisch gelegt wurden. Alle um dich herum reden vom bevorstehenden Urlaub. Wo es hingeht. Was sie im nächsten Schuljahr machen. Aber du bist nicht dabei. Du schaust schon auf dem Schulhof nach den Jüngeren, mit denen du dann abhängen wirst, schon vielleicht einen Kopf größer. Ein fades “Ewig grüßt das Murmeltier-Gefühl” setzt ein.

Die sechs Wochen Ferien sind für die Ehrenrundler kein Spaß. Mag kitschig klingen: Aber sie haben mein Mitleid. In einer Gesellschaft, die ihre Kinder schon früh in Klassen presst, Stichwort ‘Dreistufiges Schulsystem’, aus dem die Kinder ihr Leben lang nur schwer herauskrabbeln, ist so ein Sitzenbleiben eben schon ein erster Test der Leistungsfähigkeit. Und dann beginnt das neue Jahr, und du stellst dich auf die neuen Freunde ein, und die denken: Der kann ja schon alles. Aber wieso sollte sich das völlige Unverständnis an der Tafel vor irgendwelchen Formeln in sechs Wochen so dramatisch geändert haben?

Immer wieder entfachen in letzter Zeit Debatten darüber, ob das Sitzenbleiben überhaupt noch sinnvoll ist. Knapp eine Milliarde Euro kostet die Bundesländer das Wiederholen. Sollte das Geld lieber in einzelne Förderung investiert werden oder sinkt dann das Leistungsniveau? Die Zukunft der Schulpolitik ist ungewiss. 

Wer also ein Kind hat, dass diese sehr verharmlosend bezeichnete Ehrenrunde drehen muss: Seid milde, spart euch Spott oder Drohungen. Die Sitzenbleiber wissen, wie doof das alles ist. Helft ihnen in den sechs Wochen Ferien mit Nachhilfe. Bestenfalls sollen sie mit Eifer und Freude starten, sitzenbleiben vielleicht als Nachbrenner verstehen.

Und ihr, die ihr mit hängenden Löffeln am letzten Schultag vom Hof schleicht: Fuck it. Schule ist erst einmal aus – und vor allem: nicht alles im Leben. Zeigt es allen von September an. Kleiner Trost: Sogar Albert Einstein musste eine Klasse wiederholen …

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