Ein Kommentar von Martin Calsow:
Kein Mensch braucht Gigsigagsi-Fächer

Warum Laberfächer abgeschafft gehören. Gerade laufen die Abiturprüfungen im Landkreis. Was einst ein krasses Aussieben war, um nur die besten an die Universitäten zu bekommen, ist jetzt ein Ausverkauf. Martin Calsow meint zum Tag der Arbeit: weniger Orchideenfächer, mehr Handwerker.

Aktuell werden in Bayerns Schulen wieder die Abiturprüfungen geschrieben. / Foto: Shutterstock LStockStudio

Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die am Ende ihrer Schullaufbahn ein bayerisches Abitur-Zeugnis überreicht bekommen, steigt seit Jahrzehnten. In 2022 waren es 32,2 Prozent, als fast ein Drittel aller Schüler. 2009 hatte der Anteil der Abiturientinnen und Abiturienten noch bei 25 Prozent gelegen. Noch eine scheinbar dufte Nachricht: Die Zahl der Gymnasiasten, die in Bayern mit einem Schnitt von 1,5 oder besser die Schule verlassen, nimmt seit Jahren deutlich zu. Lauter schlaue, junge Bayern?

Kommentar: Gigsigagsi-Fächer können Krise

Kollegin Julia Jäckel sieht das anders und hat ein Plädoyer für die Geisteswissenschaften verfasst.

Einser-Abitur

Der Freistaat wirbt auch gern mit den Einser-Abiturienten, wertet das als Erfolg ihrer Politik. Es soll Ministerpräsidenten gegeben haben, die nur Promovierte im Kabinett haben wollten. Dieses Polit-Protzen überträgt sich auf Regierungsbezirke und Schulleiter. Jeder weiß, wann Abiturprüfungen im Landkreis sind, gern werden die Fragen in einschlägigen Zeitungen thematisiert. Und die Mittelschule? Fehlanzeige. Aber ist das alles noch so schwer? Ein Credo heißt, niemand solle zurückbleiben, erklären uns Lehrer an Gymnasien. Also werden aus fünf Klausur-Punkten, gern auch mal sieben gezaubert.

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Und das zieht sich durch. Das Abitur verliert an Wert, beklagen Lehrer allenthalben. Was heißt das konkret? In den Alltag werden oft junge Menschen mit nahezu überschaubarer Allgemeinbildung entlassen, die schon bei leichtem Kopfrechnen an selbigem kratzen und wenig Kenntnisse der eigenen Sprache, Geschichte oder an naturwissenschaftlichen Zusammenhängen mitbringen.

Orchideenfächer

Die Klage von Unternehmen und Universitäten dazu ist legendär und verpufft dennoch. Warum? Angesichts eines Arbeitnehmermarkts wird wirklich derzeit jeder, der es allein aufs Klo schafft, genommen. In den ‘harten’ Fächern wie Jura, Medizin oder sämtlichen Naturwissenschaften scheitern diese Gestalten. Also tauchen sie in exotischen Fächern, einst nur Nebenthemen weniger Hauptfächer, unter. Dort wollen Dozenten der vergleichenden Literaturwissenschaft oder des Digital-Marketings beschäftigt sein. Also versuchen Hochschulen mit unzähligen Studienmöglichkeiten, mit hip klingenden Fächern, zu locken. Aber macht es Sinn, ein Orchideenfach zu wählen?

Kleine Auswahl: “Vegan Food Management” in Bamberg, angewandte Freizeitwissenschaften in Bremen. Mein Highlight ist aber das Fach “Körperpflege” an der TU Darmstadt. Und findet man dann einen Job? Klar, siehe oben. Derzeit werden Heerscharen an intellektuellen Fußlahmen genommen, Goldstaubkinder, deren Eltern mit aller Macht ihre Kinder in akademische Höhen schießen wollen. Jene Eltern, die dann auch am ersten Tag mit zur Uni gehen. Eltern, die in München der Brut Zimmer kaufen. Eltern, deren Netzwerke den Kindern Zugänge zu Praktika ebnen, für die der Nachwuchs eigentlich nicht qualifiziert wäre.

Jeder weiß: Diese Schwurbel-Fächer haben mit einer validen akademischen Ausbildung so viel zu tun, wie Tischfußball mit der Bundesliga. Aber die Goldstaub-Kinder müssen versorgt werden, damit sie das Erbe ihrer so gescholtenen Boomer-Eltern frühzeitig antreten können.

Statusdenken

Wir leisten uns die akademische Dekadenz, weil, meist auch in meiner Branche, den Medien, dieses akademische Prekariat irgendwie unterkommt. Kommunikationswissenschaft? Ach komm, irgendeine Pressestelle braucht eine junge, m-w-d Kraft, die Newsletter durch ChatGPT jagen und Fotos für Instagram knipsen kann. Derweil fehlen z.B. Ingenieure. Nicht, weil wir zu wenig Girls’ Day Angebote an den Schulen haben. Die Bildungshürden sind schlicht zu hoch. Ich wage die These, dass von dem ein Drittel Abiturienten die gute Hälfte viel besser in einer ordentlichen Ausbildung aufgehoben und vermutlich auch glücklicher wäre. Aber das Statusdenken der Eltern, der Irrglaube, ein Studium mache bessere Menschen, kombiniert mit der fehlenden Bereitschaft staatlicher Stellen, stärker zu sieben, und nicht zuletzt die schlechten Verkäufe des Handwerks- und des Dienstleistungssektors sorgen für Nachwuchssorge.

Dumm nur, dass sich die Schere zwischen den Einkommen von Akademikern auf der einen Seite und Handwerkern bzw. nicht-akademischen Fachkräften andererseits zusehends schließt. Die Wette, auf Teufel komm raus, das Abitur zu machen, um später mal an das große Geld zu kommen, kann durch neue Technologien schnell verloren gehen. Schon jetzt kann KI in den „Sitz“-Fächern eine Menge Mensch ersetzen. Merke: Eine Wärmepumpe wird ChatGPT nicht einbauen.

Den Fokus auf Mittel- und Realschulen rücken

Mein Wunsch: Vielleicht werden Meldungen über Abiturprüfungen in der Zukunft weniger relevant in die veröffentlichte Meinung gepusht, stattdessen die Situation an Mittel- und Realschulen in den Fokus gerückt.

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