Reisen nach Follower-Zahlen:
Tegernseer-Instagram-Jugend radelt auf und davon

Junge Menschen fahren um die Welt – nur warum? Martin Calsow, Kolumnist und Herausgeber der Tegernseer Stimme hat sich ein paar Fragen gestellt …

Nur das Rad, die Qual und das Jetzt: Für mache pure Freiheit, für andere völlig unverständlich. Foto: Patrick Hendry / Unsplash.

Sie sind auf Ein-, Zwei- oder Dreirädern unterwegs; mal hüpfend, mal laufend. Nur, warum? Es vergeht kaum eine Woche, in der in einem Lokalblättchen (auch in unserer Region), nicht von jungen Menschen berichtet wird, die “wowkreischgacker” auf ungewöhnliche Weise an ungewöhnliche Orte kommen. Also nicht Otterfing, sondern eher Oslo.


Da fährt ein Rasta-Twen auf einem Einrad 700 Kilometer, ein duftes Paar fährt sich dutzende Wölfe fünf Jahre lang auf Trekking-Rädern. Zwei Jungs segeln um die Welt und posten Bilder auf ihrem Insta-Kanal, die an fade Dia-Abende mit frühpensionierten Geografie-Lehrern erinnern. Da fährt der Nachwuchskräfte-Mangel, da weht er davon …

Man könnte kulturpessimistisch, das als Eskapismus dauergelangweilter Bürgerkinder abtun. Andererseits – lieber auf dem Einrad in Eriwan, als klebend auf der Kreuzung in Kleve? Und – auch Paare mit Hitzewallungen und Haarausfall belagern die Pisten der Welt mit ihrem Pedelec und echt deutschen Satteltaschen. Aber, warum ist das so toll?

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Und warum muss man das in ernster Form der Umwelt mitteilen? Klar, es gibt Klicks, Follower – kurz: Aufmerksamkeit in einem scheinbar sonst trostlosen Leben. Manch eine oder einer macht daraus auch ein Geschäftsmodell. Das ist ein alter Hut. Wie oft ist man an verregneten Novembertagen an Gemeindezentren vorbeigelaufen, wo eine verhärmte Person (m/w/d) an einem Diaprojektor stand und Pinguine oder ‘Mongolen-Gesichter’ dem schnarchenden Lehrer-Publikum präsentierte.

Das war vor der Zeit, in der jeder Rentner aus Bad Wiessee jeden Ort mit einem Kreuzfahrtschiff erreichen konnte: all-inclusive versteht sich. Mit dem Käse-Igel und dem Eis-Schwan nach Machu Picchu, sozusagen. Fremde Orte auf Sandalen und Socken heimsuchen – das reicht nicht mehr.

So macht sich also das Bürgerkind aus Tegernsee nach den Höllenqualen des Abiturs auf in die weite Welt – mit dem Rad, oder zu Fuß, oder im alten Bulli („Dafür bekomme ich keinen Mini“ drei Zwinkersmileys). Unterwegs wird stündlich gepostet. Mindestens eine Fotostrecke mit verheultem Gesicht, weil der Reifen zum zwölften Mal geplatzt ist („und Dad ist nicht da … bruuhaah“ sieben Heul-Smileys).

Mindestens eine Strecke mit Sonnenuntergängen, die aber selten mit Fototapeten-Motiven der Siebziger mithalten können. Nicht dabei die STD-Erkrankung durch engen Einheimischen-Kontakt („If it’s itch, go see a doctor“). Und natürlich die obligatorische Routenkarte. Reisen nach Zahlen.

Daheim freuen sich offiziell die Eltern über den Zoom-Call, durchsuchen aber heimlich die Zimmer der fernen Kinder nach Drogen, und sind – natürlich – jederzeit bereit, die tolle Frucht ihrer Lenden überall abzuholen. Dumm nur, wenn die Goldstaub-Kinder zwar nicht wegen ihrer kulturell angeeigneten Dreadlocks, sondern wegen ihres impertinenten Auftretens („Ey, ich eskaliere, kein freies W-LAN im Hostel“ neun Wutsmileys) von der heimischen Bevölkerung in Usbekistan oder Tasmanien über den Haufen gefahren oder schlicht in Ecuador entführt werden.

Hier gibts Pro-Tipps, die ihr nicht auf der Lonley-Planet-App findet:


Sechs Monate Hospizarbeit sind lässiger als fünf Monate mit dem Ein-Zwei- oder Dreirad zum Nordkap. Du hast Blasen an den unmöglichsten Stellen? Unwichtig. Nein, will auch keiner sehen. Der Satz: „Ich mache das nur für mich selbst“, besitzt einen Wahrheitsgehalt wie, „Herr Wachtmeister, hab nur ein halbes Bier getrunken.“ Und jetzt wird es hart: Instagram ist nicht die Realität. Danke fürs Lesen – jetzt den Drahtesel in Papis Garage stellen und mit dem Studium der Mediengestaltung an einer Privat-Uni anfangen.

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