Beiß nicht die Hand, die dich füttert
Wenn Fakten Träume stören

Anfang der Woche schrieb unsere Redaktionsleiterin über ihre Sicht auf Vier-Tage-Woche und Grunderbe. Kollege Martin Calsow bekam Puls und antwortete …

Vielleicht nicht schön, aber garantiert nicht mit Vier-Tage-Woche und Vertrauensurlaub erworben. Foto: Martin Calsow

Vier-Tage-Woche, immerwährendes Home Office, „Vertrauensurlaub“, Grunderbe – die mehr oder weniger aktuellen Ideen aus der linken Spielzeugkiste. Haben alle leider einen Haken. Sie müssen bezahlt werden. Dafür eignen sich natürlich die üblichen Verdächtigen. Aber Details stören beim Träumen.

Die Zahl der zwangsweisen Ruhetage im Gastrobereich des Tegernseer Tals war in den letzten Monaten erschreckend hoch. Handwerker finden keinen Nachwuchs. Den Unternehmern fehlt Personal. Linke Lösung für das Dilemma: Mehr Geld, weniger Stunden Arbeit. Vier-Tage-Woche. Vertrauensurlaub. Da sind Gewerkschaftsforderungen nach mehr Lohn nahezu old school.

Das Tegernseer Tal ist ein profundes Feld für Erklärungen, die weit entfernt noch als Fragen oder Wünsche herumgeistern. Seit mehr als drei Jahrzehnten urlaubt oder zieht eine bestimmte Klientel hier an den See. Oft verspottet wegen seltsamen Sozialverhaltens und gelegentlich eigenwilligen Baugeschmacks, ist sie aber der Wirtschaftsmotor der Region. Mit ihrem Geld halten sie direkt über Steuern und indirekt über das Konsumverhalten großteils den Laden am Laufen. Auch wenn das in das Bild einiger Bürgermeister nicht passt. Reiche finanzieren unseren regionalen Reichtum. Aber wer ist diese Klientel? Sind ja nicht alle Ex-DAX-Vorstände, sondern gewöhnliche Wohlhabende. Irgendwo zwischen Husum und Bietigheim haben diese Menschen mit ihren Berufen genug Vermögen angeschafft, um hier in einer schönen Umgebung und relativer Sicherheit die letzten Jahrzehnte ihres Lebens zu verbringen. Ja, höre ich von links, die aber hatten es doch so viel besser, konnten noch viel einfacher reich werden als unsereins heutzutage. Wir schaffen es heute doch nicht mehr, ein Haus zu kaufen.

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Schauen wir uns doch mal die Fakten an: Von 1983 bis weit in die 90er Jahre lag die Arbeitslosenquote in Deutschland zwischen acht und über zehn Prozent. Wer in den Siebzigern zur Schule ging, hatte in seiner Klasse bis zu 40 Konkurrenten am Arbeitsmarkt um sich herumsitzen (kein Stuhlkreis, sondern Frontalunterricht, da klappte es dann dennoch mit dem Dreisatz). Ausbildung? Ja, aber vorher werden erst einmal hunderte von Bewerbungen geschrieben. Die Hörsäle an den Unis? Gefüllt bis zum Anschlag, teilweise mussten wir stehen oder auf den Stufen sitzen. Orchideenfächer wie tanzende Kulturwissenschaften gab es noch nicht. Permanente Staatshilfe? Fehlanzeige. Ein Haus bauen bzw. kaufen? Noch in den 1990ern mussten Immobilienkäufer fast neun Prozent Hypothekenzinsen an die Bank zahlen. Das ist nahezu das Dreifache des heutigen Niveaus. Ach ja: Dafür ist die Wohnqualität im Laufe der Jahre gestiegen. So ist zum Beispiel der Wohnflächenkonsum in den letzten 30 Jahren um 37 Prozent nach oben geklettert. Die Patchworkfamilie von heute kann eben nicht mehr auf 80 Quadratmetern leben – unzumutbar. Die braucht Platz. Und die Situation am Arbeitsplatz? Man war leichter draußen, Bonus-Systeme längst noch nicht gang und gäbe. Man sparte, fuhr seltener in Urlaub, legte mehr zurück, konsumierte weniger. Hinzu kam zwischen 1973 bis 1989 heftige Inflationsraten von bis zu 7,1 Prozent. (Zum Vergleich: Zwischen 1994 und 2020, also über eine Generation, lag die Rate nie über vier Prozent).    

Demografische Entwicklung am Beispiel der Stadt Tegernsee Quelle: BLfS

Kurz: Wer hier am See seinen angenehmen Lebensabend verbringt, hat ihn unter deutlich schlechteren Bedingungen erreicht, als die nach mehr Staatsleistungen krähenden Nachwachsenden. Ja, aber die Klimakrise? Genau: Die Sucht nach Apokalypse begleitet uns in Deutschland schon immer. Kalter Krieg, Saurer Regen, Atomkraft-Unfall etc. Bei uns mag man Angst, denn so ruft es sich eben leichter nach dem Staat. Eigeninitiative? Geht gerade nicht, muss mein Sauervergorenes einwecken.   

Auf unserer Seite hat die Kollegin Jäckel gestern zudem dem Grunderbe das Wort geredet. Folge: Noch mehr Menschen reisen ein, die vom Wohltat-Staat profitieren. Noch mehr reisen endgültig aus, die die End-Rechnung nicht bezahlen wollen. Und hier ist das Dilemma besonders erkennbar. Die Bezahlung der privaten Bedürfnisse soll bestenfalls vergesellschaftet werden. Aber: Wünschen kann man sich viel. Geht zuweilen nicht immer gut aus. Denn jemand muss die Rutsche zahlen. Und hier wird es heikel: Die Produktivität in diesem Land ist rückläufig, wen wundert’s, der sich heute im Geschäftsleben tummelt. Eine komplette Generation (“Boomer”) geht oder wird in den nächsten Jahren in Rente gehen. Sie leben aber länger und sind nicht alle bereit, ihr Haus ihren Kindern zu vererben. Was das heißt: Die viel gescholtenen Boomer gehen lieber, schließen den Betrieb, die Praxis oder Kanzlei (meist finden sie heute keinen Nachfolger, der bereit ist, selbstständig oder als Unternehmer zu arbeiten, denn da gibt es keine Vier-Tage-Woche, Elternzeit, bezahlte Fortbildungen, etc…), als der aus ihrer Sicht zu verwöhnten Nachwuchstruppe anspruchsvolle Wunschträume zu erfüllen.

Und irgendwie ist es dann auch doof, wenn aus einer Home-Office-Vier-Tage-Woche ein regelmäßiger Besuch beim Job Center wird. Zum Umverteilen gehört die Bereitschaft der Habenden, den Nicht-Habenden das Leben zu finanzieren. Solidarität heißt: Mit Abgaben Anfangsgerechtigkeit sicherzustellen – aber eben keine Ergebnisgerechtigkeit. Alles gleich klingt nur gut, endete immer mit Schauprozess und Schießbefehl.

Das Bashen wohlhabender Menschen im Tegernseer Tal sollte unter diesen Gesichtspunkten stattfinden. Alles andere erweckt den Anschein des Neids.

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