Ein Kommentar von Sabiene Hemkes:
Seit ich über die Seniorenresidenz berichte, beschleicht mich immer wieder dieses beängstigende Gefühl: Ob ich auch so enden werde? Abgeschottet von der Welt um mich herum. Sei es durch meinen körperlichen oder geistigen Verfall oder durch einen letzten Lebensabschnitt ohne Partner, Freunde oder Angehörige.
Werde auch ich in 20 Jahren hinter den Mauern einer „Seniorenresidenz“ wie in Schliersee verschwinden? Sprachlos und unsichtbar. Vergessen und verlassen von denen, die mich beschützen sollten – den Behörden, den Krankenkassen oder der Sozial-Gesellschaft? In einer Pflegeeinrichtung, die zwar die günstigste weit und breit ist, jedoch mehr Ermittlungsverfahren ihr Eigen nennt als ein Schwerverbrecher. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt in 88 Fällen mit Verdacht auf Körperverletzung und untersucht 17 ungeklärte Todesfälle in der Einrichtung.
Missstände sind bekannt, doch alle schweigen
Die Missstände in Schliersee sind seit der Eröffnung vor über zehn Jahren bekannt. Die prekären Zustände sind öffentlich wahrnehmbar gewesen für alle, die es wissen wollten und sollten. Doch ohne den Corona-Ausbruch und einige mutige Menschen, die sich an die Presse gewandt haben, hätte sich weiterhin nichts geändert. Die zuständigen Behörden verstecken sich hinter Ausreden. Das System verhindere ihr Eingreifen. Das allein ist beschämend für den Staat, aber auch für uns als Gesellschaft.
In Schliersee leben zumeist ältere Menschen, die nicht über viel Geld verfügen. Die Einrichtung ist das preiswerteste Altenheim in der Region – mit Abstand. Auch das wird zu erheblichen Problemen bei der von den Kassen empfohlenen “Zwangsumsiedlung der Bewohner” führen. Wer soll den Umzug zahlen und wer übernimmt die Mehrkosten in der neuen Pflegestätte? Und überhaupt – können das die alten Menschen verkraften? Ist es den Angehörigen zuzumuten? Die Angestellten verlieren ihren Job, wollen wir das?
Ein neuer “besserer Betreiber”?
Oder greift wieder einmal das Prinzip “Verdrängung”, so wie es die S.O. Nursing GmbH, der Schlierseer Betreiber, gestern ankündigte? Die unkomplizierte, günstige und ganz leise Lösung. Ein neuer privater Pflegedienstleister soll nach den Plänen des italienischen Mutterkonzerns Orizonte Sereni die Residenz übernehmen. So wie schon 2017 und 2019 soll der Betreiberwechsel die Probleme lösen. Wer will da schon meckern? Die Bewohner, die Angehörigen, die Angestellten, die Behörden, die Kassen, die Gesellschaft?
Schon 2017 und 2019 stand die Schlierseer Residenz vor dem Aus. Doch wie aus dem Nichts tauchte am Pflegehimmel ein neuer Heilsbringer auf. Der erste 2017 aus Belgien, der zweite zwei Jahre später aus Italien. Beides Konzerne, die Milliardenumsätze mit der Pflege alter Menschen erwirtschaften. Die internationale Pflegewirtschaft verdient unglaubliche Summen seit internationale Big-Player und private Equity Fonds Teile des Pflegemarktes übernommen haben.
Schliersee ist nicht die eine böse Ausnahme
Und mal ehrlich, glauben wir hier wirklich, Schliersee sei die ganz große Ausnahme in der bundesdeutschen Altenheimrealität? Woran aber liegt es, dass nicht nur das Alter an sich, sondern auch das Leben nach dem aktiven Leben in der Mitte der Gesellschaft in Deutschland und anderen hochentwickelten Sozialstaaten so stigmatisiert wird?
Die Alten zahlen leidend und schweigend die Zeche, so wie wir es in Schliersee gerade erleben. Und da wir hoffentlich alle alt werden, müssen wir auch noch unseren Tribut leisten.
Die Fakten liegen auf dem Tisch. Die Öffnung des Pflegemarktes, der rein aus den Geldern der Pflegekassen, der öffentlichen Hand und den Zuzahlungen der Bewohner gespeist wird – größtenteils staatlich garantierte Einnahmen – hat zu einem unüberschaubaren und nicht kontrollierbaren Wachstum im privaten Sektor geführt. Der Staat und wir alle finanzieren das Grauen
Mitgefühl zeigen? Nicht berechenbar
Und die alten Menschen schweigen. Wir hören sie nicht von ihrem Leben dort in der Residenz berichten. Wir können nicht wissen, was sie jetzt wollen. Sie haben in unserer Gesellschaft kein Gesicht und finden kein Gehör. Viele der alten Menschen dort in Schliersee haben vielleicht unsere Realität schon längst verlassen. Leben in anderen Welten. Trotzdem sind sie Menschen mit den gleichen Rechten wie wir alle. Eine frühere Mitarbeiterin der Heimaufsicht in Bayern berichtet anonym:
Die alten Menschen haben es nicht verdient, so behandelt zu werden. Niemand hat das verdient. Ich bin daran kaputt gegangen. Ich habe in den Heimen Schlimmes gesehen und Mängel festgestellt. Dann im folgenden Jahr war es wieder so.
Die Qualität und der Wert der Pflege wird durch penibel vorgeschriebene Dokumentationssysteme messbar gemacht. Waschen – abhaken – berechnen. Kämmen – abhaken – berechnen. Windel wechseln – abhaken – berechnen. Medikamente verabreichen – abhaken – berechnen. Handhalten, Reden, Zuhören, Mitgefühl zeigen – kein abhaken – nicht berechenbar.
Wir schieben die Alten nicht nur ab – wir lassen sie auch noch allein mit Investoren und Unternehmen, die aus ihrer Lebenssituation hohen Profit schlagen. Auch Behörden, Kassen, Betreiber, Betreuer, Angehörige und Pfleger schweigen – so wie wir alle. Unsere Gesellschaft schiebt die Verantwortung in die Hände des Big Business.
Mir macht es Angst, einmal zu der kontroll- und abrechenbaren Sache „zu pflegender Mensch“ zu werden. Jetzt schon weiß ich nicht, was ich meinen Eltern und Schwiegereltern raten soll. Alle sind über 80 Jahre alt. Geistig zu hundert Prozent fit – alle Vier. Aber was wird, wenn sie nicht mehr daheim leben können? Wollen wir wirklich die Menschen in Schliersee wieder einem privaten Konzern überlassen? Ist nicht endlich die Politik gefordert hier einzugreifen? Ich meine Ja – auch wenn das die unbequemste Lösung ist!
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