Landgericht München I:
Freispruch für Manfred Genditzki

Manfred Genditzki wurde heute Vormittag vor dem Landgericht München I freigesprochen. Jetzt äußert sich seine Anwältin, Regina Rick.

Umringt von Reporterinnen und Reportern bahnt sich Manfred G. den Weg ins neue Leben. Foto: Julia Jäckel

Wiederaufnahmeverfahren haben nur eine sehr kleine Chance auf Erfolg. Umso größer ist heute die Freude über den Freispruch. Genditzkis Verteidigerin, Regina Rick, betont: “Es ist bedauerlich, dass man 10 Jahre kämpfen muss, um dieses Unrecht aufzuheben.” Sie werde es nicht mehr akzeptieren, wenn Akten bei der Polizei schlummern. Rick spricht von “unsäglicher Polizeiarbeit, die von der Staatsanwaltschaft und den Gerichten übernommen wurde.” Genditzki gibt an, dass er das Ganze erstmal verarbeiten müsse, “es ist schlimm, dass es so weit kommen musste, aber ich bin dankbar für alle.” Es wäre nicht zu dem Wiederaufnahmeverfahren gekommen, wenn sich nicht Privatleute dahintergeklemmt hätten.

1. Aktualisierung um 10.02 Uhr:

Die Hartnäckigkeit von Regina Rick hat zum Erfolg geführt. Foto: Julia Jäckel.

“Es war doch wohl eher ein Unfall als ein Mord”, spricht die Richterin vom Landgericht München I. 13 Jahre, 23 Wochen und sechs Tage hat Manfred Genditzki, heute 63, auf diese Worte warten müssen. Ein Justizirrtum – das klingt wie ein kleiner juristischer Stolperer. Aber das ist es nicht. Es ist Leben, das sich der Staat genommen hat. Im Gerichtssaal kochen die Emotionen hoch. Journalistinnen und Journalisten, Freunde und Familie sind als Zuschauer vor Ort Menschen, die den Prozess von Anfang an begleiteten. Als die Begründung des Urteils verlesen wird, betont Richterin Elisabeth Erl:

Anzeige

Wir sind zu der Überzeugung gelangt, dass Frau K. aufgrund eines Unfallgeschehens zu Tode gekommen ist.

Das Sturzgeschehen, so die Richterin, kann auch verschiedenen Weise passiert sein. Denkbar ist, dass K. gestürzt ist, weil sie eine Gangunsicherheit hatte – Arthrose in der Hüfte. Eine Herz-Kreislauf-Erkrankung, die ebenfalls mit Gang- und Standunsicherheit einhergehen, kann ebenfalls den Sturz verursacht haben. Auch ein Schlaganfall wird als Möglichkeit genannt. Fakt ist außerdem, dass Kortüm erst wenige Stunden vor ihrem Tod aus dem Krankenhaus entlassen wurde und dreckige Wäsche aus den Tagen zuvor hatte. Sie wollte, das hält das Gericht für möglich, einfach ihre Wäsche einweichen, die verdreckt war (präzise: verkotet) – Kortüm hatte eine Darmerkrankung und war wegen starken Durchfall in die Klinik gegangen. Für einen Mord gibt es laut Gericht keine Anhaltspunkte mehr. Stattdessen bestätigt das Gericht eine “Kumulation von Fehlleistungen”. Erl meint damit sowohl die Polizeiarbeit, als auch, dass die gesamten Kontrollinstanzen des Staates nicht gegriffen haben.

Am Schluss des Gerichtstermins wendet sich die Richterin direkt an Genditzki: “Sie sind der Hauptleidtragende, den viele Jahre in Freiheit genommen wurde. Es tut uns wirklich leid, dass sie aus ihrem Leben gerissen wurden.” Dass er nicht zur Beerdigung seiner Mutter gehen konnte, seine Kinder nicht aufwachsen sah, seiner Tätigkeit als Hausmeister nicht weiter nachgehen konnte, auf alles “was Freude macht” verzichten musste.

Ursprünglicher Artikel vom 07. Juli, 09.54 Uhr:

Um die Tat zu verstehen, sollten wir hier Genditzkis Anwältin, Regina Rick, über den Tathergang hören, die es in einem Interview mit den Kollegen der SZ auf den Punkt bringt: “Danach soll die ganze Tat innerhalb von nur elf Minuten abgelaufen sein. In diesen elf Minuten soll Genditzki sich entschlossen haben, Frau Kortüm zu ertränken. Er soll die alte Dame, die 74 Kilogramm wog, ins Badezimmer verbracht, Wasser eingelassen und sie bis zum Eintritt des Todes unter Wasser gedrückt haben, was alleine mindestens fünf Minuten gedauert hätte. Zudem hätte er ja noch den Tatort präparieren, also zum Beispiel den Gehstock und die Pantoffeln im Badezimmer positionieren müssen. Dann hätte er, immer noch innerhalb dieser elf Minuten, die Wohnung im ersten Stock verlassen müssen, um sodann in aller Ruhe den Pflegedienst anzurufen. Das alles, ohne Spuren zu hinterlassen. Ich würde sagen: Das schafft nicht mal ein routinierter Auftragskiller.”

Manfred Genditzki hat das Aufwachsen seiner jüngeren Kinder nicht erlebt, nicht die Geburt seiner Enkel. Einmal im Monat durfte seine Familie ihn besuchen. Das war es. Dreizehn Jahre. Das ist die Schattenseite einer Law-and-Order-Staatsideologie: Eine stolze, wenig kritikfähige Justiz, die das Leben eines Menschen zerquetschen kann. Und jetzt? Eine Mauer des Schweigens, keine Entschuldigung des Justizministers oder der Richter, der Gutachter (Professor Wolfgang Keil), der führenden Ermittlerin (Diana U. von der Kripo Miesbach). Bis jetzt.

Geld wird der 63-Jährige bekommen, das wird aus dem Plädoyer klar. Mindestens 75 Euro pro Tag können es sein. Also, wenn es gut läuft, sind es vielleicht eine halbe Million Euro. Ein anderes Opfer bayerischer Justizpotenz, Gustl Mollath hat sich über 650 000 Euro erstreiten müssen. Neben der Haftentschädigung von 75 Euro können aber auch Vermögensschäden geltend gemacht werden”, sagte der Sprecher des Oberlandesgerichts München, Laurent Lafleur, dem SPIEGEL gegenüber. Hierzu gehörten etwa der Ausfall des Arbeitslohns und erlittene Nachteile bei den Sozialversicherungen.

Aber – und hier wird es sehr deutsch:  Die Justiz zieht von der Entschädigung auch noch Geld ab – unschuldig Verurteilte müssen nämlich unter Umständen für Kost und Logis im Gefängnis bezahlen. Nach Angaben des Bundesjustizministeriums können sich da Beträge von mehreren hundert Euro für jeden Monat Haft ergeben. Denn Unterkunft und Verpflegung im Gefängnis gelten als “ersparte Kosten”. 

Wenn wir Manfred Genditzki wieder bei uns am Tegernsee sehen, sollten wir ihm mit Hochachtung und Respekt begegnen. Ein Mann, der sich einfach ein normales und bescheidenes Leben wünscht. Hier hat ein schmaler Mensch, vom Unrecht der Jahre gezeichnet, gegen einen mächtigen und in Teilen arroganten Staatsapparat gewonnen. Sein Preis ist seine Freiheit.   

SOCIAL MEDIA SEITEN

Anzeige
Aktuelles Allgemein Eilmeldung

Diskutieren Sie mit uns
Melden Sie sich an und teilen Sie
Ihre Meinung.
Wählen Sie dazu unten den Button
„Kommentare anzeigen“ aus

banner