„Dem gesamten Krankenhaussystem droht ein Kollaps“

Dass das Krankenhaus Agatharied an der Belastungsgrenze angekommen ist, ist längst kein Geheimnis mehr. Doch liegt das alles nur an Corona? Und was ist mit dem Vorwurf, dass die vielen Feste im Tal alles noch viel schlimmer machen? Wir haben mit Dr. Steffen Herdtle gesprochen, der sehr deutliche Worte für die aktuelle Situation findet.

Dr. Steffen Herdtle, Chefarzt der Akut- und Notfallmedizin, spricht über den Versorgungsstau und die Engpässe im Krankenhaus Agatharied.

In den vergangenen Wochen wandte sich das Krankenhaus Agatharied immer wieder an die Öffentlichkeit, zuletzt am 02. August mit einem dringenden Appell an alle Bürgerinnen und Bürger. Der Grund: Die Situation, nicht nur im Landkreis Miesbach, ist mehr als angespannt. Viele Krankenhäuser arbeiten an der Belastungsgrenze, Patienten müssen teilweise umverteilt werden.

Doch trotz der regelmäßigen Berichterstattung gibt es immer wieder Gerüchte über die Lage im Kreiskrankenhaus, beispielsweise dass die Notaufnahme geschlossen sei oder schwerverletzte Patienten in weit entfernte Kliniken gebracht werden, weil sie in Agatharied angeblich nicht mehr versorgt werden könnten.

Anzeige

Um das aufzuklären und die aktuelle Situation besser einordnen zu können, haben wir erneut das Gespräch zu Dr. Steffen Herdtle, Chefarzt der Akut- und Notfallmedizin im Krankenhaus Agatharied, gesucht.

Wie ist die derzeitige Situation in Agatharied?

Dr. Steffen Herdtle: Nach wie vor angespannt. Die Bettenkapazitäten sind noch immer stark ausgelastet. Aufgrund der fehlenden Betten müssen wir einzelne Abteilungen immer wieder von der Leitstelle abmelden. Die Notaufnahme ist unterschiedlich frequentiert – das lässt sich leider oft schwer vorhersagen. Wir haben aber das Gefühl, dass die aktuelle Urlaubszeit und die Berichterstattung der letzten Tage dafür sorgen, dass es wieder einigermaßen machbar geworden ist. Dennoch kommt es immer wieder vor, dass – vor allem an schönen Tagen mit viel Ausflugsverkehr – die Wartezeiten für Bagatellverletzungen sehr lang werden können.

Was bedeutet konkret die Abmeldung einzelner Abteilungen, beispielsweise der Notaufnahme?

Dr. Herdtle: Abmelden bedeutet, wir geben der Leitstelle Bescheid, dass einzelne Abteilungen unseres Krankenhauses ausgelastet sind und auf andere Krankenhäuser ausgewichen werden soll. Das betrifft die leichten bis mittelschweren Erkrankungen oder Verletzungen.

Für alle schweren Fälle halten wir aber 24/7 einen funktionsfähigen Schockraum, Herzkatheter und die Schlaganfallambulanz vor.

Aus diesem Grund müssen wir unsere Notaufnahme vor einem kompletten Überlaufen bewahren. Nur so können wir die Versorgung lebensbedrohlicher Fälle zu jeder Zeit garantieren.

Wie gestaltet es sich derzeit mit geplanten Operationen? Können diese planmäßig eingehalten werden?

Dr. Herdtle: Die Personaldecke im OP ist aufgrund von vielen Krankheitsfällen sehr dünn. Derzeit stehen nur 5 von 7 OP-Sälen zur Verfügung. Da Notfälle priorisiert versorgt werden, müssen planbare Operationen zum Teil verschoben werden.

Wie sieht es mit den Belegzahlen an Covid-Patienten aus?

Dr. Herdtle: 
Wie Sie wissen, handelt es sich hier immer nur um eine Momentaufnahme, die sich schnell ändern kann. Zuletzt waren es 12 Patienten auf der Normalstation und 1 auf der Intensivstation.

Nach zwei Jahren Pandemie wird aktuell rundum gefeiert und kaum jemand merkt in der Hochstimmung des Sommers etwas von den Engpässen im Krankenhaus. Wird die Lage im Krankenhaus durch die “völlige Freiheit” schlimmer?

Dr. Herdtle: Solche Veranstaltungen sorgen auch immer für viele Verletzungen und medizinische Notfälle ansich. Das war aber auch schon vor Corona so. Es ist halt eine zusätzliche Belastung. Und da jeder Patient bei uns getestet wird und eben auch Verletzte mit „Nebendiagnose Corona“ zu uns kommen, gilt für diese die gleichen aufwändigen Isoliermaßnahmen, als wenn ein Patient wegen Corona zu uns kommt.

Die Diskussion ob „mit“ oder „wegen“ Corona ist für uns unerheblich.

Wären Sie persönlich wieder für Covid-Maßnahmen und wenn ja, welche erachten Sie als wirkungsvoll?

Dr. Herdtle: Grundsätzlich ist es wichtig, mit Symptomen zu Hause zu bleiben. Das hilft schon sehr, damit andere sich nicht anstecken können. Zusätzlich würde ich den Einsatz von Masken bei großen Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen befürworten, um Super-Spreader-Events zu vermeiden.

Wie geht es dem Pflegepersonal und den Ärzten? Sind diese an der Belastungsgrenze?

Dr. Herdtle: Ja. Durch die, besonders in der Pflege, ohnehin sehr dünne Personaldecke, der Pflegefachkräftemangel, die Urlaubszeit und viele krankheitsbedingte Ausfälle, müssen die übrigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter viel kompensieren. Das geht an die Belastungsgrenze und deutlich darüber hinaus.

In einem normalen Juli sind durchschnittlich 30-35 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Krankenstand. Dieses Jahr hatten wir zum Teil 80-100 Erkrankte am Tag.

Egal ob mit Blick auf den Landkreis Miesbach oder das ganze Bundesgebiet, die Inzidenzen sind nach wie vor hoch. Wo es eine hohe Zahl von Corona-Erkrankten in der Bevölkerung gibt, bleiben natürlich auch unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter davon leider nicht verschont. Im Vergleich zur Omikronwelle Anfang des Jahres halten sich die Zahlen aber in Grenzen.

Wie können die Menschen für die aktuelle Situation in den Krankenhäusern sensibilisiert werden?

Dr. Herdtle: Um noch einmal zusammenzufassen: Wir sehen aktuell auch Corona-Patienten im Krankenhaus, doch die momentane, akute Überbelastung betrifft nicht explizit die Isolationsstationen. Vielmehr ist das gesamte Krankenhaussystem massiv überbelastet. Da geht es allen Krankenhäusern in der Region gleich. Durch das fehlende Personal (durch offene Stellen, Urlaub, Krankheitsausfälle und auch Corona-bedingte Ausfälle) können nicht genug Betten betrieben werden.

Dazu fehlen Betten in der Patientenversorgung, da die Versorgung von Corona Patienten überproportional Personal- und Bettenressourcen braucht.
 Nach 2,5 Jahren Pandemie und den dadurch immer wieder verschobenen, planbaren Behandlungen ist ein Versorgungsstau entstanden, der mit den dafür zu knappen Ressourcen und dem hohen Tagesgeschäft kaum abgearbeitet werden kann. Das System funktioniert normalerweise, weil alle Krankenhäuser den Bedarf ihres Versorgungsgebiets abdecken.

Wenn jetzt einzelne Krankenhäuser immer wieder durch Abmelden von der Leitstelle die „weiße Fahne schwenken“, schwappt das Problem reihum zu den Nachbarhäusern. Dazu kommt, dass dies alles hohe Kosten verursacht, die für die Krankenhäuser finanziell nicht zu stemmen sind. Dem gesamten Krankenhaussystem droht kapazitiv als auch finanziell ein Kollaps.

Die Bürger bitten wir bei ihren Symptomen deshalb kritisch zu hinterfragen: Handelt es sich um eine Erkrankung oder Verletzung, die vom niedergelassenen Arzt versorgt werden kann, dann sollte in erster Linie der Hausarzt kontaktiert werden. Ist die Hausarztpraxis nicht erreichbar, stellt sich die Frage ob es ausreicht in die nächste Sprechstunde zu kommen. Ist das nicht der Fall, dann steht der ärztliche Dienst der kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) unter der Telefonnummer 116 117 zur Verfügung. Aber: Bei ernsten Erkrankungen oder lebensbedrohlichen Situationen ist der Notruf über 112 immer erreichbar und wir für die Patientinnen und Patienten da.

Vielen Dank für das Gespräch, Dr. Herdtle.

SOCIAL MEDIA SEITEN

Anzeige
Aktuelles Allgemein Interview

Diskutieren Sie mit uns
Melden Sie sich an und teilen Sie
Ihre Meinung.
Wählen Sie dazu unten den Button
„Kommentare anzeigen“ aus

banner