Wie ich mit einem scheinbar kleinen Ritual etwas Großes für mich verändert habe 
Eine Hommage an den Tegernseer Sommer

Heute Morgen habe ich etwas gemacht, dass sonst nicht Teil meiner Routine ist: Ich bin früh morgens mit meinem Fahrrad zum Schwimmen an den See gefahren.

/ Foto: Carolina Kempa

Ich meine, ich liebe es, im See schwimmen zu gehen, aber vor elf Uhr trifft man mich hier normalerweise nicht an. Oft noch später. Wenn ich mal ausschlafen kann, tue ich das auch gern, denn als Mama einer dreijährigen Tochter bin ich die meisten Tage der Woche gezwungenermaßen eh ein „früher Vogel“. Aber heute ist das anders: Ich wache von allein um sechs Uhr dreißig auf und als ich die Fenster in meinem Schlafzimmer öffne, ist die klare Morgenluft so verlockend, dass ich mich dagegen entscheide, mich mit Kaffee direkt vor den Laptop zu setzen und anzufangen zu arbeiten. Stattdessen folge ich dem, wozu ich in diesem Moment wirklich Lust habe: am See zu sein. Also ziehe ich mich zügig an, packe meine Tasche und verlasse das Haus. 

Als ich die Seestraße entlang radle, nehme ich alles bewusst in mir auf: Die Luft ist wunderbar frisch, die Sonne streichelt sanft meine Haut. Vereinzelt gehen Menschen joggen oder mit ihrem Hund Gassi. Abgesehen davon ist kaum etwas los. Ich kann jetzt schon spüren, dass es ein heißer und trubeliger Tag wird. Aber noch strahlt der ganze Ort eine entspannte Ruhe und Langsamkeit aus. Das Wasser auf dem See wirkt still und unberührt: Diese morgendliche Stimmung hat für mich immer wieder etwas Magisches, mit jedem Atemzug sauge ich sie auf. Ich genieße den Fahrtwind, höre wie die Reifen meines Fahrrads auf dem Asphalt rollen. Schon jetzt frage ich mich, warum ich das eigentlich nicht öfter mache.

Als ich an meinem Lieblingsplatz im Malerwinkel ankomme, werde ich von dem Herrn, der bereits auf der Bank sitzt und mit seiner Schwimmrunde noch früher dran war als ich heute Morgen, mit einem freundlichen “Servus” begrüßt – so ist das hier. Man grüßt sich gegenseitig. Hach, schön! Hier fühle ich mich jedes Mal willkommen und am richtigen Platz. Ich breite meine Decke auf der menschenleeren Wiese aus und schaue auf den See. Das Wasser glitzert im Sonnenlicht, heute Morgen ist die Farbe ein dunkles Blau – der See ist nie gleich, jeden Tag hat das Wasser einen etwas anderen Ton, hinterlassen der Wind und die Strömung ein anderes Muster auf seiner Oberfläche. Am Himmel fliegt ein Schwarm Vögel, der aussieht wie eine Wolke aus kleinen schwarzen Punkten, die schnell hin- und herspringen. Der Bootsmast des weißen Segelboots klackert rhythmisch im Wind. Ich nehme die angenehme Brise wahr. 

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Gibt es einen besseren Ort für eine morgendliche Meditation? Ich glaube nicht. Ich setze mich im Schneidersitz hin, schließe meine Augen und gehe mit meiner Aufmerksamkeit nach innen. Spüre meine Atmung und nehme die sanfte Wellenbewegung meines Körpers wahr. Ich setze eine Intention für meinen heutigen Tag: achtsam und ehrlich mit mir selbst zu sein. Ich entspanne mich immer tiefer, Minuten vergehen, ich habe kein Zeitgefühl mehr.

Der Glockenturm schlägt – es ist 8 Uhr. Ich beende meine Meditation, öffne meine Augen. Ich fühle mich geerdet und klar. Ich mache ein paar Yogaübungen und strecke meinen Körper. Dann stehe ich auf und gehe zum Ufer, steige die Steintreppe hinab, bis ich knietief im kühlen Nass stehe. Lasse meinen Blick noch einmal schweifen: Auf die gegenüberliegenden Häuser, wie sie still am Berghang stehen. Jedes für sich und irgendwie alle zusammen. Hinten auf dem See sehe ich zwei Ruderer, die Zug um Zug lautlos durchs Wasser gleiten. Ich atme ein paar Mal tief ein und aus. Dann springe Kopf über ins Wasser. Ziemlich kühl und so verdammt herrlich! Ich schwimme auf den See hinaus, lege mich auf den Rücken, sehe Rottach-Egern vor mir: Die Kramerei, in der jetzt schon ein paar Leute ihren Kaffee genießen, die privaten Strände, auf denen die Liegestühle noch unbesetzt sind. An der Promenade gehen Menschen gemütlich spazieren. Ab und zu fährt ein Auto langsam die Straße entlang. Ich habe den Eindruck, es hat noch niemand eilig an diesem Samstagmorgen.

Auf dem Bootssteg neben dem Hotelstrand der Überfahrt sehe ich eine blonde Frau in einem weiß-roten Sommer-Outfit stehen, die gestikulierend telefoniert. An ihrer Seite sitzt ihr schöner Vishler, der seine Hundenase genüsslich in die Luft streckt und dessen braunes Fell golden in der Sonne schimmert. Am Ufer sonnt sich ein Pärchen auf den warmen Steinen, sie legt ihren Kopf auf seinen Bauch, er streicht zärtlich über ihre Schulter. Beide genießen sichtlich diesen Moment. Wo ich hinblicke: Seligkeit und friedliche Ruhe. Klingt das kitschig?

Langsam schwimme ich zurück zum Ufer, genieße das kalte Wasser auf meiner Haut, tauche unter und lasse meinen Körper ganz vom Wasser umhüllen. Mit jedem Zug kann ich spüren, wie mich das kalte Wasser und die Bewegung meines Körpers mit Energie auffüllt – so als würde sich innerlich ein Akku wieder aufladen. Meine Müdigkeit schwindet und ich fühle mich einfach nur lebendig. 

Als ich aus dem Wasser steige, beobachte ich, wie ein sonnengebräunter Mann um die sechzig in seinem maritimen Look und der perfekt frisierten, weißen Haarpracht sein Boot startklar macht. “Servus”, sagt er zu mir mit seiner lauten, tiefen Stimme. “Servus”, antworte ich lächelnd. Ich lege mich auf mein Handtuch, lasse mich von der Sonne trocknen und genieße dieses herrliche Prickeln, das nur kaltes Wasser auf der Haut hinterlässt. 

Ich bekomme Lust auf einen Kaffee. Ich ziehe mich an und laufe die wenigen Schritte zur Kramerei, die jeden Tag geöffnet hat, was unter den Cafés am Tegernsee eine Seltenheit ist. Auf meinem Weg fühle ich mich Hals über Kopf verliebt: in diesen Sommermorgen, in den Tegernsee, ins Leben. 

Es ist wie im Urlaub, als ich so mit meinen nassen, zerzausten Haaren im Laden stehe und meinen Hafer-Cappucino bestelle. Eine freundliche, junge Frau mit tätowierten Armen und streng zurückgebundenem Haar bereitet meinen Cappuccino zu, die Kaffeemaschine pfeift, summt und brummt – vertraute Geräusche, die mir vermitteln, hier einen anständigen Kaffee zu bekommen. Neben ihr steht ein Mädchen im Grundschulalter und tanzt leicht zu dem Song, der gerade aus der Musikbox klingt. Eine schöne Stimmung liegt in der Luft. Ich zahle meinen Kaffee und gehe langsam zurück.

Die blonde Frau vom Bootssteg neben mir hat aufgehört zu telefonieren und bindet nun ihr Stand-up Paddle – passend zu ihrer Kleidung ist es ebenfalls rot-weiß – mit einer Schnur am Steg an. Einen Augenblick später steigt sie die kleine Metallleiter hinab ins Wasser und schwimmt auf den See hinaus. Ich schaue ihr nach, bis sie nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne ist. Ich fühle den warmen Pappbecher in meiner Hand, rieche den Kaffeeduft, nippe an meinem Cappuccino, schließe meine Augen.

Auf einmal höre ich ein herzhaftes Lachen. Ich öffne meine Augen. Die Stimme gehört zu einem Mann, der zusammen mit einer Frau nah am Ufer entlang schwimmt. Dann komme ich in den Genuss, Gesprächsfetzen aus dem Rheinland (meiner Heimat) zu hören:

“Nee? War nix in der Laber-Rhabarber-Gruppe?”

“Mensch, du, ich würd´ ja schon gern hier leben, ne, aber immer diese langen Winter – dat mag ich nich.”

“Wieviel Uhr is dat? Haste keine Uhr um?”

Der Glockenturm läutet. “Es ist neun Uhr”, sage ich so laut, dass der Mann mich hören kann. 

„Danke!“ Er strahlt. „Wat, neun Uhr schon?“, sagt er seiner Begleiterin zugewandt. 

“Da am Kirchturm können Sie auch die Uhrzeit sehen”, füge ich hinzu.

“Ja, vor 40 Jahren konnte ich dat lesen. Jetzt sehe ich nur, dass da ‘ne Kirche is.” Der Mann lacht herzhaft über seine eigene Bemerkung und entblößt eine Reihe weißer Zähne. Ich muss auch lachen. Ach, ich liebe die Rheinländische Frohnatur. Und wenn ich sie hier am Tegernsee erleben darf, umso mehr! 

Ich trinke meinen Kaffee aus, lasse mich noch ein paar Minuten lang wärmen von der immer stärker werdenden Sonne und mache mich auf den Heimweg. Ich fasse den Entschluss, von nun an, immer wenn es zeitlich und organisatorisch irgendwie möglich für mich ist, morgens früh hier hin zu radeln und eine Runde schwimmen zu gehen. Und wenn ich nur eine halbe Stunde extra habe. Hier zu leben und so in den Tag starten zu können empfinde ich als großes Glück und als Geschenk, das ich ab sofort viel mehr für mich nutzen möchte – weil es mir eine Zusatzportion Energie, Lebendigkeit und Zufriedenheit für den Tag gibt. Weil es weder Geld kostet, noch negative Nebenwirkungen hat. Es birgt zwar die eine gewisse Suchtgefahr, aber damit kann ich sehr gut leben. 

Nachtrag der Autorin:

Seit dem beschriebenen Morgen bin ich täglich hergekommen und morgens im See schwimmen gewesen. Manchmal hatte ich Zeit, zu verweilen und mein Buch zu lesen, manchmal bin ich nur kurz ins Wasser gesprungen und wieder zurückgefahren. Aber es fühlt sich jetzt schon an, wie ein wertvolles Ritual, das ich (so lange es das Wetter zulässt) wiederholen werde. Denn erstens, wohne ich nicht ohne Grund am Tegernsee und zweitens kommt der Herbst noch früh genug. 

Was ist dein Sommer-Ritual, auf das du nicht verzichten möchtest? Schreibe mir gern in den Kommentaren dazu. 

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