Menschen, die hier nicht sein müssten

Die Inzidenzzahl nähert sich der Zahl 1.000. Der Landkreis Miesbach führt in der unrühmlichen COVID-Infektionszahl. Was hat das für Auswirkungen im Kreiskrankenhaus? Wir waren exklusiv vor Ort und haben mit den Menschen gesprochen. Eine Story in zwei Teilen. Heute: Die Patienten.

Zu Besuch auf der Corona-Station. / Quelle: Martin Calsow

Da liegt er auf der Seite, einen Schlauch in seinem Rachen. Draußen rechen Gärtner das Laub des Sommers zusammen. Drinnen kämpfen sechs Menschen mit COVID-Viren in sich um das blanke Überleben. Zwischen blinkenden Maschinen liegen sie, einige können noch mit einer Sauerstoffmaske bei Bewusstsein bleiben, um jedes Luftholen kämpfend.

Andere haben die Pflegekräfte sediert, denn der Schlauch, der da über den Mund die Luftröhre hinunter gelegt wurde, ist wach kaum zu ertragen. Sechs Menschen – vier sind nicht geimpft, die zwei anderen so alt, dass die Impfung aus dem Januar nun sie nicht mehr ausreichend geschützt hat. Das ist der Alltag in Agatharied.

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Hier ist das Virus

Am Vortag hatte das Krankenhaus sich mit dramatischen Worten an die Öffentlichkeit gewandt. Man sei an der Grenze, die Mitarbeiter seien erschöpft. Wir hatten um einen Besuch auf der Covid-Station und der Intensivstation gebeten. Jetzt bin ich hier, warte an der Schleuse. Denn übliche Besuche werden nicht mehr gestattet, nur in Ausnahmen wie Todesfall, Demenz oder Geburt, den Marksteinen unseres Lebens, dürfen Angehörige zu den Patienten kommen.

So erklärt es Chefarzt Dr. Wellner, der mich mit der Pressesprecherin Melanie Speicher und dem Pflegedirektor Sven Steppat abholt. Sie alle haben – natürlich – über den Feiertag gearbeitet. Der Arzt wirkt trotz der Belastung positiv, kann noch scherzen, der Pflegechef, der die knappe Ressource Personal koordiniert, ist da schon etwas angespannter. “Die vierte Welle hat unser Landkreis-Krankenhaus hart getroffen. Zu viele Neu-Infektionen laufen auf, die Kapazitäten reichen für eine Qualitätspflege kaum noch aus”, erklärt Steppat auf dem Weg zur Covid-Station 1. Chefarzt Wellner, drahtiger Typ und eigentlich im Urlaub, veranschaulicht es deutlich:

Da draußen wird in einer Schein-Realität gelebt. Das hier ist das richtige Leben. Hier ist das Virus.

Er selbst sei schon zum dritten Mal geimpft, ärgert sich auch über die Ansagen der STIKO, erst nur Ältere zu impfen. “Je länger die zweite Impfung her ist, desto wichtiger ist die Booster-Impfung.” 40 Betten stehen in der momentanen Bettenplanung auf den Normalstationen für Covid-Infizierte zur Verfügung. Damals provisorisch eingezogene Holzwände trennen noch immer die Station 1 vom Eingangsbereich, wo Sari Pätynen-Seifert, stellvertretende Leiterin der Station, uns empfängt. Vormals ging man noch davon aus, die Schleusen bald wieder abbauen zu können. Jetzt sind fest zu installierende Glaswände bestellt, um die Station dauerhaft umzubauen.

Wer liegt auf der Covid-Station?

Die Pflegekräfte, die hier arbeiten, betreuen ausschließlich Covid-Fälle. Während Wellner beschreibt, wie immer mehr Ungeimpfte schwere Befunde bekommen, wie sie erst hier landen, sich bei einigen nach Tagen der Zustand verschlechtert, sie dann auf die Intensivstation verlegt werden und nach und nach ihre Genesungschancen sinken, bringt ein Rettungssanitäter-Team einen neuen Patienten auf die Station, kaum älter als 60. Wir müssen in die Vollkleidung gehen. Das heißt: Schutzbrille, Mütze, Kittel, FFP3-Maske und Handschuhe.

Aber was sind das für Patienten, die hier liegen? Da sind zum einen die Alten, deren Impfstatus schwächer wird, die Vorerkrankungen haben. “Da sind aber auch die, die aufgrund ihres Bildungsgrads wissen müssten, wie gefährlich es ist, ungeimpft herumzulaufen”, betont der Arzt, sichtlich bemüht, so neutral wie möglich zu formulieren. Aber natürlich sind sie alle sauer, dass sie hier deutlich weniger Stress, Sorgen und Belastungen hätten, wenn sich da draußen in der Scheinrealität Menschen von der Impfangst befreiten.

“Mein Kind hat mich angesteckt”

Da ist der ältere Herr, Parkinson-erkrankt, kann kaum sprechen, liegt hier eigentlich mit einer anderen Erkrankung, hat aber eben auch eine Covid-Infektion. Er hört schlecht, kann sich kaum artikulieren, umso zärtlicher wird er von der Pflegerin behandelt, die ihm die Kopfhörer vorsichtig von den Ohren nimmt, damit er den Chefarzt verstehen kann.

Es sind überhaupt die kleinen Gesten zwischen Patienten und Pflegern, aber auch zwischen dem Personal, die auffallen. Später wird ein Oberarzt und ein Pflegeleiter sagen, dass die Pandemie auch das Zusammenarbeiten verändert habe, dass man stärker zusammengerückt sei. Auch das Finden von dem wenigen Guten gehört zur Motivation dieser Menschen hier dazu.

So kommen wir zu einem jungen Mann, der Covid akut erst einmal überstanden hat. Industriemechaniker, 42 Jahre alt, aus dem Südkreis. Vater eines Kindes. Das hat ihn angesteckt, sagt er. Sitzt auf seinem Bett, unterdrückt den Hustenreiz, atmet flach. “Vor drei Wochen habe ich mich das erste Mal impfen lassen. Zu spät. Mein Kind hat mich eine Woche später angesteckt, kam aus der Schule. Auch meine Frau wurde positiv getestet, aber bei mir ist es dann ausgebrochen”, erzählt er. Ein Mannsbild, jetzt schwach und nach Luft suchend, spricht leise, dass es ihm wie “dem Kimmich gegangen sei, er habe Angst vor den Langzeitfolgen gehabt.” Und jetzt?

Ja, jetzt sage ich jedem, dass er sich impfen lassen soll. Zwischendurch, als das Fieber nicht wegging, ich keine Luft bekam, hier lag – da war mir mulmig.

Und man spürt seine Angst. “Morgen kann er das Krankenhaus verlassen”, erklärt Chefarzt Wellner. Aber der Mann wird noch lange brauchen. Er selbst sieht sich bei 50 Prozent seiner Kraft. Das wirkt optimistisch, findet der Arzt.

Drei Schritte zum Tod

Es geht zwei Stockwerke nach oben zur Intensivstation, unterwegs erfährt Pflegechef Steppat, dass zwei weitere seiner Mitarbeiter positiv getestet wurden und ausfallen. Auch das gehört zur Wahrheit: Krankenhauspersonal wurde sehr früh geimpft, Boosterimpfungen wurden von der STIKO vorerst nur für ältere Personen empfohlen. Jetzt kommt es zu Impfdurchbrüchen eben auch bei jenen, die anderen helfen sollen. Große politische Reden über Pflegenotstand sind da gerade wenig hilfreich.

Wir sitzen im Zimmer des Pflegeleiters Intensivstation, Michael Ströhla, kräftige Unterarme, ruhig und empathisch. Dr. Manert, der leitende Oberarzt der ITS; wie sie hier sagen, kommt hinzu, wird im Gespräch immer wieder hinausgehen müssen, weil er mittlerweile im ganzen südlichen Teil Bayerns herumtelefonieren muss, ob andere Häuser Fälle übernehmen können. Fälle, die eine Ecmo-Maschine, eine externe “künstliche Lunge”, benötigen. Eine Ausrüstung, die Agatharied nicht besitzt, weil sie zu Normalzeiten kaum zum Einsatz käme.

Auch so eine Sache. Lakonisch erklären die Ärzte, dass es drei Schritte zum Tod gebe. Zuerst wird mit einer Sauerstoffbrille das Atmen erleichtert. “Sie müssen sich das vorstellen, als hätten sie immer zu wenig Luft, müssten immer nach Luft schnappen wie nach einem schnellen Sprint”, erklärt der Pflegechef, der lange selbst auf Intensiv-Stationen tätig war. Der nächste Schritt ist das Intubieren. Eine heikle Angelegenheit, denn dem Menschen wird das eigenständige Atmen abgenommen. Hilft das alles nichts mehr, ist für den Patienten in Agatharied Schluss. Er muss verlegt werden.

“Fiftyfifty ist die Überlebenschance mit einer Ecmo-Therapie”, sagt Manert. Er habe einen Covid-Patienten mit 58 Jahren in einem Krankenhaus mit dieser Ausstattung unterbringen wollen – und wäre fast gescheitert, die Chancen seien zu gering angesichts des Alters. Man habe ihn dann dennoch genommen.

Hier kämpfen Menschen um ihr Leben – ungeimpft

Wir gehen zu den “Boxen”, wie die Zweibettzimmer hier genannt werden. Vor den Zimmern, wie in einem übergroßen Cockpit, überwachen Pflegerinnen und Pfleger an Monitoren die Werte der Patienten in den Zimmern. Die Türen sind alle geöffnet. Rechts liegt “Grün”, Intensivpatienten ohne Covid-Befund. Links liegen die anderen, Infizierte, die beatmet werden müssen, umgeben von dutzenden Geräten, einige intubiert, ihre Gesichter fahl, Schläuche schlängeln sich in ihre Körper, Monitore zeigen Werte. Da ist der Mann in meinem Alter, der auf der Seite liegt, damit die schwache Lunge besser arbeitet. Er wird noch an diesem Tag intubiert werden.

Hier kämpfen sie um ihr Leben. Ruhig, professionell und dennoch immer wieder mit den kleinen Gesten der Menschlichkeit die Anonymität und die permanente Angst vor dem qualvollen Tod bekämpfend. Da draußen, hinter den Fenstern der Intensivstation, kehren Gärtner den Rasenmulch zusammen. Die hier liegen, hätten mit einer rechtzeitigen Impfung höchstwahrscheinlich diesen Kampf nicht führen müssen, wären glückliche Familienväter oder Großmütter geblieben. Sie hätten den Pfleger nicht angefleht, wie er erzählt, sie nicht in den Keller, also zu den Toten, zu bringen. Ihre Lunge wäre nicht wie Chefarzt Wellner berichtet, nach und nach Weiß im Röntgenbild erschienen. Milchglasmuster nennen Ärzte diese weißen Einsprengsel, es sind entzündliche Stellen.

Daraus könnten später Narben werden. Atmen wie einst wird dann nur sehr schwer möglich sein. Todesfälle, schlimme Erkrankungen, das sehen sie hier auf der Intensivstation immer. Das weiß jeder, der sich für diesen Beruf, ob Arzt oder Pflegekraft, entscheidet. Krankheiten können kommen, manche sind absehbar, manche kommen einfach so. Aber sie behandeln hier eben auch Menschen, die mit einer Impfung hier nicht sein müssten, hier nicht nach Luft schnappen müssten, hier nicht als letztes wahrnehmbares Bild einen Pfleger oder Arzt hinter einer Maske sehen müssten, ehe sie aus dieser Welt gehen.

Im nächsten Teil unserer zweiteiligen Reihe geht es um die Auswirkungen der hohen Infektionszahlen auf das Personal und die Struktur des Krankenhauses.

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